Hochfranken-Feuilleton
 Jede Art zu schreiben ist erlaubt, nur nicht die langweilige.  (Voltaire)

Durch Leiden lernen

Drei Stücke in einem: Mit der antiken Trilogie der „Orestie“, auf knapp drei Stunden eingedampft, startet das Hofer Schauspiel-Ensemble überwältigend in die neue Spielzeit. Nach blutigen Rachefeldzügen biegen die Tragödien ab in ein Lehrstück über das Gebot der Rechtsstaatlichkeit.

Anja Stange und Alrun Herbing (als Kassandra, rechts): Roter Teppich ins "Menschenschlachthaus" (Fotos: H. Dietz Fotografie)


Von Michael Thumser

Hof, 9. Oktober 2025 – So. Das hätten wir. Erledigt. Nach getaner Arbeit tritt Klytaimnestra vor ihr Haus, die verschmierte Axt noch in der Hand und sehr mit sich zufrieden. Mit dem Beil hat sie gerade ihren Gatten Agamemnon totgeschlagen und dabei selbst was abbekommen: Sie trieft von Blut. Zehn Jahre lang sammelte der König in Troja Kriegs- und Heldenruhm auf das nun gespaltene Haupt, dann, just am Tag der Rückkehr, ereilt ihn daheim der Tod, als die Gattin ihre lang geplante Rache an ihm vollendet; hat der gleichgültige Gemahl doch einst den Göttern die Tochter Iphigenie geopfert.

     Eine düstere Geschichte, weitgehend grausam. Entsprechend beherrschen die Farben Dunkelgrau und Rot die Bühne. Seit der – vom überwältigten Publikum stehend gefeierten – Premiere zeigt das Theater Hof die drei Dramen der „Orestie“ an einem einzigen, fesselnd blutigen und aufregend dichten, fabelhaft gespielten und unverhohlen belehrenden Abend. Gleich zum Auftakt der neuen Schauspiel-Saison eine prima Produktion: Guten Gewissens könnte sie sich wohl auf jeder deutschen Bühne sehen lassen.

Anja Stange als Klytaimnestra: Vollstreckerin eines exterminatorischen Feminismus.

   Fesselnd blutig
     Eine Art Turmburg beherrscht die wunderbar weite, durch Wechsel des Lichts (Jürgen Burger) immer neu modellierte Szenerie von Ausstatter Markus Pysall; eine finstere Festung, immerhin hell im Innern. Dort aber schaut es aus wie am Set eines Splattermovies. Verkrümmte Tote liegen herum, in Blut gebadet; das Weiß der Wände: rot bespritzt. Das Töten selbst zwar erspart Regisseur Frank Behnke dem Betrachter, doch sind die Ergebnisse schaurig genug. 

     Ein „Menschenschlachthaus“ nennt Kassandra (Alrun Herbing) den Bunker, als sie, Agamemnon folgend, ihrem letalen Schicksal entgegengeht. Klytaimnestra selbst, nicht lang danach,  muss dran glauben, und ihr Gespiele Aigisthos, ein geiler Proll, der so ziemlich wie Charles Bukowski aussieht, gleich mit (Stefan Lorch, der für den erkrankten Marco Stickel einsprang). Opfer der Vendetta beide: Orest, der Sohn, schneidet ihnen die Hälse durch, auf dass sie Vaters Tod sühnen.

   Aufregend dicht
     Was sich von vornherein verbietet: Naturalismus. Einfalls- und erfindungsreich hat Frank Behnke Bühne und Handlung stilisiert und dabei scharfsinnig auf die hohe, schwere Kunst der Reduktion gesetzt, gleich doppelt: Den Schauplatz ließ der Regisseur mit nichts als hundert dunkelvioletten Stühlen füllen; und den Text aus dem alten Hellas, sich auf die Prosa-Übersetzung Peter Steins mit ihrer mitteilsamen Modernität verlassend, strich er konsequent zusammen. Da fällt, in aller Ausführlichkeit, nicht ein Wort zu viel. Oft überspitzen sich die zügigen Mono- und Dialoge zum Aphorismus, und manche Zuschauerin, mancher Zuschauer wünscht sich womöglich da und dort eine verzögernde Sekunde, um die Schärfe und Prägnanz ganz zu erfassen. Das Ensemble weiß alles nur Sentenziöse zu vermeiden.

Apollon (Jörg Bregenzer, auf der Schaukel, mit Benedict Friederich und den Erinnyen): Herabgelassene Lichtgestalt.

     Freilich, Devisen werden kernig formuliert, einprägsame Losungen. „Die Toten töten die Lebenden.“ Oder „Durch Leiden lernen“: So bringt der Chor den Zündstoff des Stücks auf den Punkt. Aus einem einzigen Mann – dem ergötzlich wendigen Oliver Hildebrandt – kann dies Kollektiv bestehen, das dann keines ist, eher Partner oder Kommentator. Oder es tun sich drei und mehr zusammen. Immer ist der Chor das leib- und lebhafte Gegenüber der Protagonisten, duckmäuserisches Untertanenvolk oder schräger Einflüsterer oder plumper Propagandist, oder kluger Mahner und banger Warner. Insgeheim gehört auch Hannes Götz dazu, wenn er sich, wiewohl im Hintergrund, wortlos mindestens ebenso viel Geltung verschafft: Am Drumset steuert der Perkussionist eine Bühnenmusik nur aus Geräusch und Rhythmus bei. So unterschiebt er dem Reich der Finsternis eine schwingende und pulsierende, irisierende und oszillierende Atmosphäre. Auch er: ein Protagonist.

   Fabelhaft gespielt
   
Als furiose Furie positioniert sich Anja Stange als Zentrum in der ersten Hälfte der Aufführung. Mit der Hacke in der Hand bekennt sich ihre Klytaimnestra als Vollstreckerin eines exterminatorischen Feminismus. Ihr sei, sagt sie, mit dem Gattenmord ihr „Meisterwerk“ gelungen. Man ahnt, dass sie damit ein Zeichen setzt, dem Patriarchat insgesamt den Garaus zu machen und dies mit Wonne zu genießen.

Orest (Benedict Friederich): Schmächtig von Gestalt, doch klar bei Verstand.

     Nicht leicht ist gegen eine Darstellerin solchen Schlages aufzukommen. Das weiß Benedict Friederich, wenn er das Schlachtfeld betritt. Schlank, in Anzug und Krawatte, tut er es als Orest, und vielleicht tut ders nicht gern, denn er will nicht eigentlich, er muss. Apollon zwingt ihn: Jörn Bregenzer (anfangs Agamemnon) wird aus dem Bühnenhimmel als herablassende Lichtgestalt herabgelassen, schick in Gelb und Gold auf einer Schaukel. Alles andere als ein Kämpfer steckt in Friederichs Orest, lieber wohl würde der nett-naive junge Mann mit Elektra, seiner Schwester (Alexandra Ebert), chillen, als auf Muttermord zu sinnen. Nach getaner Bluttat denkt er nicht einmal an Flucht, schon gar nicht daran, sie abzuleugnen: Schmächtig von Gestalt, doch von wachem Verstand stellt er sich mutig dem Gericht.

     Wo auf der Bühne so viel Tragisches so drastisch sich ereignet, droht die Travestie. Im Theater ist Blut nur ein Effekt und kein besonderer Saft. Geschickt mit Humoristischem  darum bannt Regisseur Behnke die Gefahr des Lächerlichen: Ralf Hocke gibt Orests Amme pausbäckig im hartnäckig rutschenden Rock, Peter Lorch macht als Putzmann mit Wischmopp redselig den Dreck aus Blut und Erde weg, für ein paar Takte Sirtaki ist immer Zeit, drei wenig ernst zu nehmende Erinnyen schnarchen und schmatzen, maulen und fauchen versifft wie abgetakelte Gespenster … – die Komik der Katastrophe. Ironie bricht zum Glück auch den Optimismus des Schlussteils, bevor er allzu verstiegen in eine ideale Zukunft weist.

Ralf Hocke, Oliver Hildebrandt (links): Komik der Katastrophe.

     Unverhohlen belehrend
     Aus dem Abgrund von Verderbtheit und Verderben fördert Regisseur Behnke eine eindeutige Moral zutage und scheut sich nicht, sie unverhohlen kundzutun. Eine message nannte man das früher, eine faustschlagwortartige Moral. Hier besagt sie: dass – um mit Schiller zu reden – eine „böse Tat fortzeugend Böses muss gebären“; dass – um mit Aischylos zu reden – „Tod anderen Tod schafft, Rachetod“; dass Blut, wie die Gegenwart beweist, ein Suchtstoff ist. Wo es ein Mal floss, gieren die Menschen dauerhaft danach.

     Katharsis interaktiv: Zum erlösenden Gericht über Orest lädt Alrun Herbing als Athene, antik gewandet in göttliches Sonnengelb, Damen und Herren aus dem Zuschauerraum auf die Bühne. Zu Geschworenen ernannt, sollen sie den geständigen Bluttäter freisprechen oder aburteilen. Dergestalt kanalisiert die glanzvolle Göttin Volkes Stimme kontrollierbar und befestigt das mehrheitsdemokratische Prinzip der freien, gleichen, geheimen Abstimmung: Rechtsstaatlichkeit. So, das hätten wir, erledigt? 

     Wohl nicht. Seit mindestens zweieinhalb Jahrtausenden träumt jede Zivilisation von Gesetz und Sicherheit und war und ist doch, wie die gegenwärtige, stets von atavistischen Ausbrüchen barbarischer Gewalt entstellt. Was im Epilog ausgerechnet, aber nicht zufälligerweise Anja Stange, die Rachemörderin des ersten Teils, mit mustergültiger Bühnenhochsprache dem Publikum ins Gewissen ruft, aus allen Rollen heraustretend, wohlmeinend jetzt, als müsste sie es Kindern erklären: ein Schluss- und Friedenswort wie die Präambel zu einem zeitlosen Grundgesetz.

■ Informationen über die Produktion und weitere Vorstellungen im Internet: hier lang.
■ Werkeinführung jeweils 45 Minuten vor Beginn.
■ „Touch Tour“ für blinde und sehbeeinträchtigte Menschen sowie alle Interessierten am Sonntag, 12. Oktober, um 16.30 Uhr. Mit dem Erwerb der Eintrittskarte zur Vorstellung ist die Tour kostenlos. Teilnahme nur nach vorheriger Anmeldung bis eine Woche vor der Vorstellung (E-Mail: buchung.jungestheater@theater-hof.de; Telefon: (09281) 70 70 123)
■ Theatertalk „Nachgefragt ... Die Orestie“ am Samstag, 1. November, nach der Vorstellung in Mocky's Backstage Bistro.