Hochfranken-Feuilleton
 Jede Art zu schreiben ist erlaubt, nur nicht die langweilige.  (Voltaire)
Aktuell

27. Juli, Bayreuth, Festspielhaus

Eine „Handlung“, in der kaum etwas geschieht, vier Stunden lang: Zur Eröffnung der Bayreuther Richard-Wagner-Festspiele versenkt Regisseur Þorleifur Örn Arnarsson die Oper  Tristan und Isolde tief in die Doppel-Biografie des Titelheldenpaars. An seiner Deutung scheiden sich die Geister, während Semyon Bychkov als Dirigent, Andreas Sager als Tristan und Camilla Nylund als Isolde  triumphieren.



Eckpunkt

Nun aber fix

Von Curiander

13. Juli   Wir sollten geduldiger sein. Die Schöpfung ist ein ewiger Prozess, alles in ihr braucht seine Zeit, viel Zeit. Auch heute dürfen wir den antiken Philosophen vertrauen, die durchschauten, dass „die Natur keine Sprünge macht“, natura non facit saltus. Und schickt sie sich doch zu einem Hüpfer an, so reicht der schon mal zehn Millionen Jahre weit. Aus dem Blickwinkel der Ewigkeit, sub specie aeternitatis, nicht mal ein Wimpernschlag: Ungefähr so lang oder kurz dauerte die „Kambrische Explosion“ der Tierarten vor gut 540 Millionen Jahren – gleichsam schlagartig brachte die Evolution damals binnen zehn Jahrmillionen nahezu alle uns heute bekannten zoologischen Stämme hervor. Die Menschheit freilich „macht Sprünge“. Auch in der Evolution ihres Fortschritts zündete eine Explosion – zu Beginn der 1950er-Jahre ereignete sie sich und hält als „Große Beschleunigung“ seit nunmehr einem Dreivierteljahrhundert, immer eiliger werdend, an. Zur Zeit der Renaissance hätte sich das universelle Faktenwissen physisch vollständig in leidlich kleinen Sammlungen von Schriften aufbewahren lassen, symbolisch gesprochen: in einer nicht allzu langen Reihe von Bücherschränken. Seither indes vervielfachte es sich unablässig, und nie in solchem Maß wie während der besagten jüngsten 75 Jahre. Während die Weltgemeinschaft der Forschenden in den Fünfzigern jährlich etwa hunderttausend Fachbeiträge publizierte, bringt sie es heute auf mehrere Millionen Jahr für Jahr. Einst waren auf allen Datenspeichern zusammengenommen – namentlich auf Lochkarten und Magnetbändern – einige wenige Milliarden Zeichen (also Gigabyte) hinterlegt; eine lächerlich verschwindende Menge, verglichen mit den etlichen Exabytes oder Milliarden Milliarden Zeichen, die auf heutigen Servern liegen. Wenn die Gelehrten noch bis vor hundertfünfzig Jahren die Welt vor allem in der Horizontalen, an ihren Oberflächen, durchforsteten und -forschten, so bohren sich die Genies von heute, bildlich gesprochen, vertikal kilometerweit in die Tiefen; was sie dort ergründen, ist so spezialisiert und fokussiert, dass es sich selbst den interessiertesten Laien unter uns kaum begreiflich machen lässt, zumal es dafür eines Fachjargons bedarf, der den Bereich breitentauglicher Kommunikation weit hinter sich lässt. Die Entwicklung der Schrift, die Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern, die Fähigkeit, Elektrizität zu erzeugen und zu nutzen, die Formulierungen der Relativitätstheorien durch Albert Einstein … – alles geradezu anomale Vorkommnisse in der Geschichte, von denen jedes einzelne der Entfaltung des menschlichen Geistes eine kopernikanische Wende bescherte. Anfangs lagen zwischen derlei Schwellenübertritten ganze Epochen, wenn nicht Jahrtausende, schließlich wenigstens mehr als ein Jahrhundert; hingegen hat, wer heute zwischen siebzig und achtzig Lenze zählt, mit den ersten Großrechenanlagen, dem Internet und der „Künstlichen Intelligenz“ binnen eines einzigen Menschenalters gleich drei solcher historischer Grenzüberschreitungen miterlebt. Geht dies alles nicht – um mit Woody Allen zu sprechen – „um eine Terz zu geschwind“? Wer angesichts so augenfälliger Anhaltspunkte für eine „Große Beschleunigung“ befürchtet, mit dem eigenen hellen und doch so beschränkten Köpfchen über kurz oder lang aus der nächsten Kurve der globalen Geistesexpansion getragen zu werden, hat von uns Leidensgenossen verständnisinnigen Trost und geduldigen Zuspruch verdient. ■

Alle früheren Kolumnen im Eckpunkte-Archiv.

Rückblick

25. Juli, Essay
Heuer dürfen große Leser und nicht zuletzt die kleinen des „Gebrauchsschriftstellers" Erich Kästner gleich doppelt gedenken: Vor 125 Jahren, in Dresden, kam er zur Welt, am nächsten Montag vor fünfzig Jahren ist er in München gestorben. „Deutschlands hoffnungsvollsten Pessimisten“ nannte ihn Marcel Reich-Ranicki, selbst sah er sich als Moralisten und Augenzeugen, der Hitlers Terror-Reich von innen beobachtete.

20. Juli, Musik und Buch
Als Meister des „Deep Listenings“ hat der US-Kritiker Jeremy Eichler Das Echo der Zeit zwischen etwa 1870 und 1970 belauscht, um an vier Beispielen über Tonkunst und
-künstler in der Epoche der Weltkriege zu erzählen. Außerdem: Schubert-Bearbeitungen von Mahler und Webern; Kleinmeisterliches vom Operngiganten Puccini; und „Fredigundis“, Franz Schmidts zweites, staunenswertes Musikdrama.



Theater Hof

Schauspiel
zuletzt
Plutos oder Wie der Reichtum sehend wurde
Vorhang auf für Cyrano!
Die Politiker
Der Menschenfeind


Musiktheater
zuletzt
Dante
Zorro
1984
Anna Karenina



Theater andernorts
zuletzt
Tristan und Isolde auf dem Grünen Hügel
The Rake’s Progress
in Plauen
Jelisaweta Bam
im Vogtlandtheater
Der König stirbt in Bayreuths Studiobühne


Konzert
zuletzt
Himmelfahrt zu den Planeten: Die  Symphoniker mit  englischem Programm
Gäste in Wahnfried:
Die Musica Bayreuth feiert Wagners 150-jähriges Domizil
Schlachtrösser des Repertoires:
Rachmaninow und Brahms in Selb
Im Garten Eden:
Klangsinnige Raritäten der Kammermusik in  Stammbach



Film und Fernsehen
zuletzt
To the Moon
Die Herrlichkeit des Lebens
Sterben
Civil War


Kleinkunst, Kabarett, Comedy
zuletzt
Olaf Schubert bewertet die Schöpfung
Philipp Scharrenberg verwirrt Bad Steben
Birgit Süß:
Das Graue vom Himmel
Definitiv vielleicht:
Günter Grünwald in Hof


Anderes
zuletzt
Musik & Buch: Franz Schmidt, Schubert/Webern/Mahler, Puccini und der Holocaust
Aus dem Leben alter Häuser: Begleitbuch zur Hofer Stadtbrand-Ausstellung
Kaiser Heinrich II.: Bamberg erinnert an den Begründer des Bistums und Doms
Humanistisch bleiben: Eine Performance wirbt für Menschlichkeit im Gaza-Krieg


Essay  
zuletzt
Das Kleinmaleins des Lebens
Erich Kästner, doppelt und dreifach
Schwebende Verfahren
Zum 100. Todestag Franz Kafkas
Ein Quantum Brecht muss bleiben
Zum 125. Geburtstag des Stückeschreibers
Symphonien des Grauens
125 Jahre „Dracula“ von Bram Stoker



_____________________________________


Die Bücher
Erhältlich über den Buchhandel und online

KAISERS BART - (2022) Dreizehn Essays von Michael Thumser. Verlag Tredition, Hamburg, 344 Seiten, gebunden 25, als Paperback 18, als E-Book 9,99 Euro.
Auch Kaisers Bart kommt vor in diesem Buch, zum Beispiel der des mittelalterlichen Staufers Barbarossa. Wenn wir uns indes heute „um des Kaisers Bart streiten“, dann geraten wir nicht wegen einer royalen Haupt- und Staatsaktion, sondern um einer Bagatelle willen aneinander. Dem Gewicht nach irgendwo dazwischen halten sich die Themen der dreizehn Essays auf, die alle dem weiten Feld der Kulturgeschichte entsprossen sind. Umfassend recherchiert und elegant formuliert, erzählen sie über Bücher und Bärte, Genies und Scheusale, über selbstbestimmte Frauen, wegweisende Männer und Narren in mancherlei Gestalt, über Stern- wie Schmerzensstunden der Wort- und Tonkunst. Worüber berichtet wird, scheint teils schon reichlich lang vergangen – „sooo einen Bart“ hat aber nichts davon.



VERPESTETE BÜCHER - (2021) Elf literarische Epidemien und ein Epilog. Von Michael Thumser. Mit Buchschmuck von Stephan Klenner-Otto. Verlag Tredition, Hamburg, 172 Seiten, gebunden 16,99, als Paperback 8,99, als E-Book 2,99 Euro.
Dieses Buch ist nicht das Buch zur Krise. Freilich ist es ein Buch zur Zeit. Es will einem traditionsreichen, aber noch unbenannten Genre der Weltliteratur einen passenden Namen geben: dem Seuchenbuch. Erstmals erschienen die literaturkundlichen Essays während der Corona-Pandemie auf dieser Website. Vermehrt um ein Kapitel über Mary Shelleys Roman „Der letzte Mensch“, wurden sie sämtlich überarbeit. Den ausgewählten Werken der deutschsprachigen und internationalen Erzählkunst ist gemeinsam, dass in ihnen Epi- und Pandemien eine Hauptrolle spielen. So belegen die Werkporträts, dass die Furcht vor Seuchen und die Hilflosigkeit gegen ihr raumgreifendes Wüten die Geschichte der Menschheit als Konstanten durchziehen. Die Beispielhaftigkeit der vorgestellten Seuchenbücher verleiht ihnen über ihre Epochen hinaus Wirkung und Gewicht.

 

WIR SIND WIE STUNDEN - (2020) Neunzehn Essays von Michael Thumser. Verlag Tredition, Hamburg, 340 Seiten, gebunden 21,99, als Paperback 12,99, als E-Book 2,99 Euro.
Mehr oder weniger handeln alle hier versammelten Texte von Zeit und Geschichte, Fortschritt und Vergänglichkeit, von Werten und Werden, Sein und Bleiben, von Wandel und Vanitas. Zwischen 2010 und 2020 entstanden, wollen sie als Essays gelesen werden, folglich weniger als Beiträge zu den Fachwissenschaften, mit denen sie sich berühren, denn als schriftstellerische Versuche. Formal handelt es sich um sprachschöpferische Arbeiten eines klassischen Feuilletonisten, inhaltlich um Produkte von Zusammenschau, Kompilation und Kombination, wobei der Verfasser Ergebnisse eingehender Recherchen mit eigenen Einsichten und Hypothesen verwob, um Grundsätzliches mitzuteilen und nachvollziehbar darüber nachzudenken.


DER HUNGERTURM - (2011/2020) Dreizehn Erzählungen von Michael Thumser. Verlag Tredition, Hamburg, 288 Seiten, gebunden 19,99, als Paperback 10,99, als E-Book 2,99 Euro.
Von Paaren handeln etliche der dreizehn Geschichten in diesem Band: von solchen, die auseinandergehen, von anderen, die „trotz allem“ beieinanderbleiben, von wieder anderen, die gar nicht erst zusammenfinden. Dass die Liebe auch bitter schmecken kann, ahnen oder erfahren sie. Sich selbst und der Welt abhanden zu kommen, müssen manche der Figuren fürchten, den Kontakt zu verlieren, allein zu sein oder zu bleiben und nichts anfangen zu können, nur mit sich. Manche haben ihren Platz ziemlich weit fort von den anderen, zum Beispiel hoch über ihnen wie der namenlose Protagonist der Titelerzählung "Der Hungerturm". Irgendwann freilich werden sie aufgestört von der halb heimlichen Sehnsucht, mit jemandem zu zweit zu sein. Bei anderen genügt ein unerwarteter Zwischenfall, dass der Boden unter ihren Füßen ins Schwanken gerät und brüchig wird. Und es gibt auch welche, denen die Wirklichkeit in die Quere kommt, weil sie ein Bild von sich und Ziele haben, die nicht recht zu ihnen passen. Knapp und zielstrebig, bisweilen in filmartig geschnittenen Szenen und Dialogen berichten die zeitlosen Erzählungen davon, wie aus Unspektakulärem etwas Liebes- und Lebensbestimmendes, mitunter Tödliches erwächst.