Hochfranken-Feuilleton
 Jede Art zu schreiben ist erlaubt, nur nicht die langweilige.  (Voltaire)
Aktuell

29. Juli, Bayreuth, Festspielhaus 
Mit dem wagnerschen Tief- und Schwersinn ließ sich die Premierenwoche der Festspiele erst mal Zeit: Betont unterhaltsam, allen weitergehenden intellektuellen Ansprüchen bekennend abgeneigt, hat Musical-Spezialist Matthias Davids zur Eröffnung die Meistersinger von Nürnberg inszeniert. Dafür belohnt das Publikum ihn mit Applaus und verwöhnt damit noch mehr die Darsteller der Eva, des Stolzings und des Beckmessers sowie den fundamental wuchtigen Chor.



Eckpunkt

So riecht Vergangenheit

Von Curiander

24. Juli 2025   Alles, was unsere Sinne aufnehmen, beurteilen wir nach Maßstäben, die nur uns allein zugehören. Alles ist relativ – denn alles ist subjektiv: Geschmackssache. Auch der Geruch: Die Dame, die sich erwartungsvoll mit ihrem Lieblingsparfüm besprüht, wird ihren Schwarm schwerlich an sich fesseln, sofern der den gewählten Duft und damit die Dame einfach nicht riechen kann. - Alles, fast alles, was wir mit unseren Sinnen wahrnehmen, lässt sich in der Geschichte greifen: Gemälde machen uns Menschen und Lebenswelten gestriger und vorvorgestriger Epochen sichtbar, die Stimmen längst Verblichener werden auf Tonträgern vernehmlich, in Burgen betasten wir Rüstungen und Mobiliar des Mittelalters, und wenn wir kochend uralten Rezepten folgen, können unsere Gaumen die Würze noch von den Leckerbissen der Antike kosten. Einen sehr verwandten Sinneseindruck hingegen enthält uns die Vergangenheit hartnäckig vor: Ihre Witterung, buchstäblich mit der Nase, dürfen wir so gut wie nie aufnehmen. Mithin werden wir nie erfahren, ob wir heute tolerieren würden, was die Männer und Frauen etwa des wenig hygienischen Barock an Körpergerüchen einander bedenkenlos zumuteten, oder ob wir angeekelt nicht lieber die Flucht vor ihnen ergriffen. Gibt es, neben dem wohligen Naturgeruch der Babys, eine Duftnote, die jeder, wirklich jeder Nase schmeichelt? Vielleicht Vanille? Gibt es, umgekehrt, den Mief, vor dem sich seit jeher überall auf Erden alles mit Grausen wendet? Etwa Aas im Zustand der Verwesung? Oder verschwitzte Käsefüße? Und wie roch die Welt früher? Spürnasen der exakten Wissenschaften folgen seit Langem auch den Fährten von so Vagem und Flüchtigem wie längst verwehten Düften und Ausdünstungen. So zitierte die FAZ die Geruchsforscherin Sissel Tolaas, die (einigermaßen erwartungsgemäß) herausgefunden hatte, ein Schützengraben des Ersten Weltkriegs habe „modrig nach feuchter Erde, nach Schießpulver, Blut, bandagierten Wunden und Pferdekadavern“ gerochen. Noch weiter zurück schnüffelte sich der britische Historiker William Tullett, nämlich bis in den Blut- und Pulverdampf der Schlacht von Waterloo und sogar ins London der 1750er-Jahre. Wie roch Europa früher? Unterm ingeniösen Projekttitel „Odeuropa“ vereint, haben Forschende aus sechs Ländern, darunter Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, von 2021 an Gerüche der Geschichte als olfaktorisches, mithin immaterielles Kulturerbe erschnuppert und dafür mittels KI weit mehr als 200.000 Digitalisate – 43.679 historische Bilder und 167.029 Bücher in sechs Sprachen aus den Jahren 1600 bis 1920 – durchforstet und ausgewertet. Der Allgemeinheit macht jetzt ein Smell Explorer die Fundstellen online zugänglich. Jetzt krönte der begehrte ‚Europa Nostra‘ Heritage Award der Europäischen Kommission die Fleißarbeit. Selbst den Geruch der Hölle hat der Brite Dr. Tullett zusammengebraut und im Mai auf der Weltausstellung in Osaka vorgestellt. Gottesfürchtig orientierte er sich an Horrorszenarien in Predigten des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts: Dementsprechend konfrontiert uns das Ergebnis mit dem Bukett von reichlich Schwefel und „einer Million toter Hunde“. Sollte uns nach unserem eigenen Ableben ein solcherart drastisches Odeur umfächeln, wird uns das gewaltig stinken. ■

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Rückblick

19. Juli, Musik
Wundermädchen, gefeierte Pianistin, inspirierte Komponistin: Clara Schumann war weit mehr als die geliebte Ehehälfte ihres Mannes Robert. Einen pianistischen Längsschnitt durch ihr Leben zieht Sophie Vaillant auf drei CDs. Außerdem: Rebekka Hartmann mit dem Violin-„Concerto funebre“ ihres Namensvetters Karl Amadeus Hartmann. Und Andrea Turini bilanziert seine jahrzehntelange Beschäftigung mit Bachs „Goldberg-Variationen“.

15. Juli, Hof, St.-Michaelis-Kirche
Eine zeitgemäßere, weil historisch informierte Aufführung hätte sich anders angehört – zum romantisierenden Spektakel entstellte Martijn Dendievel Johann Sebastian Bachs
Hohe Messe in h-Moll trotzdem nicht. Ungefähr hundert Chorsängerinnen und -sänger, dazu etwa vierzig Musikerinnen und Musiker boten die Symphoniker für ihren Hofer Saisonabschluss auf. 750 Zuhörende belohnten das triumphale Festspiel stehend mit langem Applaus.



Theater Hof

Schauspiel
zuletzt
Nipplejesus
Das Leben ein Traum
Handbuch gegen den Krieg
Alle meine Männer


Musiktheater
zuletzt
Die Perlenfischer
The Brothers/Der Jüngste Tag ist jetzt
Ballet Blanc
Titanic


Theater andernorts
zuletzt
Die Meistersinger in Bayreuth
Salome
im Vogtlandtheater
Die Befristeten
auf Bayreuths Studiobühne
Tristan und Isolde
auf dem Grünen Hügel


Konzert
zuletzt
Hohe Messe in Hof: Bachs opus magnum als Festspiel für den Frieden
Auf kurze Distanz:
Werke von Bach und Brahms im Selber Rosenthal-Theater
Ärzteorchester: „Leistungsorientierte Amateure“ mit gewichtiger Romantik
Sommerreigen:
Wolfgang Emanuel Schmidt als Cello-Virtuose und Dirigent



Film und Fernsehen
zuletzt
Mission Impossible - The Final Reckoning
48. Grenzland-Filmtage Selb/Aš
Maria
Nosferatu


Kleinkunst, Kabarett, Comedy
zuletzt
TBC macht lauter gute Vorschläge
Olaf Schubert bewertet die Schöpfung
Philipp Scharrenberg verwirrt Bad Steben
Birgit Süß
erzählt das Graue vom Himmel


Anderes
zuletzt
Musik: Klaviermusik von Bach und Clara Schumann, Hartmanns Violinkonzert
Bücher: Hermann Hesses toter Bruder, Bamberger Sprach-Bilder und viel Wasser
Die Kunst der Bauchlandung: Das neue Buch des Hofers Roland Spranger
Bücher & Musik: Von Sonne, Mond und Sternen in den „Geschichtsraum“ Bayern


Essay  
zuletzt
... und zum Flor des Landes: Zwischen 1806 und 1918 - Bayerns fünf bis sechs Könige
Das Findelkind Europas:
Kaspar Hauser war nachweislich kein Fürstenspross
Das Kleinmaleins des Lebens

Erich Kästner, doppelt und dreifach
Schwebende Verfahren
Zum 100. Todestag Franz Kafkas

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Die Bücher
Erhältlich über den Buchhandel und online

KAISERS BART - (2022) Dreizehn Essays von Michael Thumser. Verlag Tredition, Hamburg, 344 Seiten, gebunden 25, als Paperback 18, als E-Book 9,99 Euro.
Auch Kaisers Bart kommt vor in diesem Buch, zum Beispiel der des mittelalterlichen Staufers Barbarossa. Wenn wir uns indes heute „um des Kaisers Bart streiten“, dann geraten wir nicht wegen einer royalen Haupt- und Staatsaktion, sondern um einer Bagatelle willen aneinander. Dem Gewicht nach irgendwo dazwischen halten sich die Themen der dreizehn Essays auf, die alle dem weiten Feld der Kulturgeschichte entsprossen sind. Umfassend recherchiert und elegant formuliert, erzählen sie über Bücher und Bärte, Genies und Scheusale, über selbstbestimmte Frauen, wegweisende Männer und Narren in mancherlei Gestalt, über Stern- wie Schmerzensstunden der Wort- und Tonkunst. Worüber berichtet wird, scheint teils schon reichlich lang vergangen – „sooo einen Bart“ hat aber nichts davon.



VERPESTETE BÜCHER - (2021) Elf literarische Epidemien und ein Epilog. Von Michael Thumser. Mit Buchschmuck von Stephan Klenner-Otto. Verlag Tredition, Hamburg, 172 Seiten, gebunden 16,99, als Paperback 8,99, als E-Book 2,99 Euro.
Dieses Buch ist nicht das Buch zur Krise. Freilich ist es ein Buch zur Zeit. Es will einem traditionsreichen, aber noch unbenannten Genre der Weltliteratur einen passenden Namen geben: dem Seuchenbuch. Erstmals erschienen die literaturkundlichen Essays während der Corona-Pandemie auf dieser Website. Vermehrt um ein Kapitel über Mary Shelleys Roman „Der letzte Mensch“, wurden sie sämtlich überarbeitet. Den ausgewählten Werken der deutschsprachigen und internationalen Erzählkunst ist gemeinsam, dass in ihnen Epi- und Pandemien eine Hauptrolle spielen. So belegen die Werkporträts, dass die Furcht vor Seuchen und die Hilflosigkeit gegen deren raumgreifendes Wüten die Geschichte der Menschheit als Konstanten durchziehen. Die Beispielhaftigkeit der vorgestellten Seuchenbücher verleiht ihnen über ihre Epochen hinaus Wirkung und Gewicht.

 

WIR SIND WIE STUNDEN - (2020) Neunzehn Essays von Michael Thumser. Verlag Tredition, Hamburg, 340 Seiten, gebunden 21,99, als Paperback 12,99, als E-Book 2,99 Euro.
Mehr oder weniger handeln alle hier versammelten Texte von Zeit und Geschichte, Fortschritt und Vergänglichkeit, von Werten und Werden, Sein und Bleiben, von Wandel und Vanitas. Zwischen 2010 und 2020 entstanden, wollen sie als Essays gelesen werden, folglich weniger als Beiträge zu den Fachwissenschaften, mit denen sie sich berühren, denn als schriftstellerische Versuche. Formal handelt es sich um sprachschöpferische Arbeiten eines klassischen Feuilletonisten, inhaltlich um Produkte von Zusammenschau, Kompilation und Kombination, wobei der Verfasser Ergebnisse eingehender Recherchen mit eigenen Einsichten und Hypothesen verwob, um Grundsätzliches mitzuteilen und nachvollziehbar darüber nachzudenken.


DER HUNGERTURM - (2011/2020) Dreizehn Erzählungen von Michael Thumser. Verlag Tredition, Hamburg, 288 Seiten, gebunden 19,99, als Paperback 10,99, als E-Book 2,99 Euro.
Von Paaren handeln etliche der dreizehn Geschichten in diesem Band: von solchen, die auseinandergehen, von anderen, die „trotz allem“ beieinanderbleiben, von wieder anderen, die gar nicht erst zusammenfinden. Dass die Liebe auch bitter schmecken kann, ahnen oder erfahren sie. Sich selbst und der Welt abhanden zu kommen, müssen manche der Figuren fürchten, den Kontakt zu verlieren, allein zu sein oder zu bleiben und nichts anfangen zu können, nur mit sich. Manche haben ihren Platz ziemlich weit fort von den anderen, zum Beispiel hoch über ihnen wie der namenlose Protagonist der Titelerzählung "Der Hungerturm". Irgendwann freilich werden sie aufgestört von der halb heimlichen Sehnsucht, mit jemandem zu zweit zu sein. Bei anderen genügt ein unerwarteter Zwischenfall, dass der Boden unter ihren Füßen ins Schwanken gerät und brüchig wird. Und es gibt auch welche, denen die Wirklichkeit in die Quere kommt, weil sie ein Bild von sich und Ziele haben, die nicht recht zu ihnen passen. Knapp und zielstrebig, bisweilen in filmartig geschnittenen Szenen und Dialogen berichten die zeitlosen Erzählungen davon, wie aus Unspektakulärem etwas Liebes- und Lebensbestimmendes, mitunter Tödliches erwächst.