24. Juli 2025 Alles, was unsere Sinne aufnehmen, beurteilen wir nach Maßstäben, die nur uns allein zugehören. Alles ist relativ – denn alles ist subjektiv: Geschmackssache. Auch der Geruch: Die Dame, die sich erwartungsvoll mit ihrem Lieblingsparfüm besprüht, wird ihren Schwarm schwerlich an sich fesseln, sofern der den gewählten Duft und damit die Dame einfach nicht riechen kann. - Alles, fast alles, was wir mit unseren Sinnen wahrnehmen, lässt sich in der Geschichte greifen: Gemälde machen uns Menschen und Lebenswelten gestriger und vorvorgestriger Epochen sichtbar, die Stimmen längst Verblichener werden auf Tonträgern vernehmlich, in Burgen betasten wir Rüstungen und Mobiliar des Mittelalters, und wenn wir kochend uralten Rezepten folgen, können unsere Gaumen die Würze noch von den Leckerbissen der Antike kosten. Einen sehr verwandten Sinneseindruck hingegen enthält uns die Vergangenheit hartnäckig vor: Ihre Witterung, buchstäblich mit der Nase, dürfen wir so gut wie nie aufnehmen. Mithin werden wir nie erfahren, ob wir heute tolerieren würden, was die Männer und Frauen etwa des wenig hygienischen Barock an Körpergerüchen einander bedenkenlos zumuteten, oder ob wir angeekelt nicht lieber die Flucht vor ihnen ergriffen. Gibt es, neben dem wohligen Naturgeruch der Babys, eine Duftnote, die jeder, wirklich jeder Nase schmeichelt? Vielleicht Vanille? Gibt es, umgekehrt, den Mief, vor dem sich seit jeher überall auf Erden alles mit Grausen wendet? Etwa Aas im Zustand der Verwesung? Oder verschwitzte Käsefüße? Und wie roch die Welt früher? Spürnasen der exakten Wissenschaften folgen seit Langem auch den Fährten von so Vagem und Flüchtigem wie längst verwehten Düften und Ausdünstungen. So zitierte die FAZ die Geruchsforscherin Sissel Tolaas, die (einigermaßen erwartungsgemäß) herausgefunden hatte, ein Schützengraben des Ersten Weltkriegs habe „modrig nach feuchter Erde, nach Schießpulver, Blut, bandagierten Wunden und Pferdekadavern“ gerochen. Noch weiter zurück schnüffelte sich der britische Historiker William Tullett, nämlich bis in den Blut- und Pulverdampf der Schlacht von Waterloo und sogar ins London der 1750er-Jahre. Wie roch Europa früher? Unterm ingeniösen Projekttitel „Odeuropa“ vereint, haben Forschende aus sechs Ländern, darunter Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, von 2021 an Gerüche der Geschichte als olfaktorisches, mithin immaterielles Kulturerbe erschnuppert und dafür mittels KI weit mehr als 200.000 Digitalisate – 43.679 historische Bilder und 167.029 Bücher in sechs Sprachen aus den Jahren 1600 bis 1920 – durchforstet und ausgewertet. Der Allgemeinheit macht jetzt ein Smell Explorer die Fundstellen online zugänglich. Jetzt krönte der begehrte ‚Europa Nostra‘ Heritage Award der Europäischen Kommission die Fleißarbeit. Selbst den Geruch der Hölle hat der Brite Dr. Tullett zusammengebraut und im Mai auf der Weltausstellung in Osaka vorgestellt. Gottesfürchtig orientierte er sich an Horrorszenarien in Predigten des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts: Dementsprechend konfrontiert uns das Ergebnis mit dem Bukett von reichlich Schwefel und „einer Million toter Hunde“. Sollte uns nach unserem eigenen Ableben ein solcherart drastisches Odeur umfächeln, wird uns das gewaltig stinken. ■
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Rückblick
19. Juli, Musik
Wundermädchen, gefeierte Pianistin, inspirierte Komponistin: Clara Schumann war weit mehr als die geliebte Ehehälfte ihres Mannes Robert. Einen pianistischen Längsschnitt durch ihr Leben zieht Sophie Vaillant auf drei CDs. Außerdem: Rebekka Hartmann mit dem Violin-„Concerto funebre“ ihres Namensvetters Karl Amadeus Hartmann. Und Andrea Turini bilanziert seine jahrzehntelange Beschäftigung mit Bachs „Goldberg-Variationen“.
15. Juli, Hof, St.-Michaelis-Kirche
Eine zeitgemäßere, weil historisch informierte Aufführung hätte sich anders angehört – zum romantisierenden Spektakel entstellte Martijn Dendievel Johann Sebastian Bachs Hohe Messe in h-Moll trotzdem nicht. Ungefähr hundert Chorsängerinnen und -sänger, dazu etwa vierzig Musikerinnen und Musiker boten die Symphoniker für ihren Hofer Saisonabschluss auf. 750 Zuhörende belohnten das triumphale Festspiel stehend mit langem Applaus.
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