Fliegen im Bernstein
Zu Beginn der neuen Saison tritt Martijn Dendievel den seit 23 Jahren vakanten Posten des Hofer Chefdirigenten an. Mit den Symphonikern und dem jungen Geiger Tobias Feldmann gelingt ihm ein großartiger Einstand. In deutscher Erstaufführung erklingt Richard Blackfords „Niobe“– ein Meisterwerk.
Von Michael Thumser
Hof, 1. Oktober 2024 – Diese Klänge sind fatal. Sie haben und hatten es in sich: Nachdem die nazideutsche Wehrmacht 1941 die Sowjetunion überfallen hatte, pflegte das Kernmotiv aus „Les Préludes“ als „Russland-Fanfare“ die triumphal tönenden, zunehmend verlogenen Frontberichte in Rundfunk und Kino einzuleiten. Lang liegt das zurück, aber ein ungutes Gefühl macht sich bei manchen noch immer geltend, sobald Franz Liszts Tondichtung erklingt. Wie ein gefährlich schönes Insekt in edlem, aber verdächtig braunem Bernstein hält sich die Erinnerung. Das französische Gedicht, das der Komponist (allerdings erst nachträglich) der Partitur wie eine Inhaltsangabe beifügte, schwadroniert von der „Feierlichkeit“ des Soldatentodes und vom Mann, der erst eigentlich als Krieger seine wahre Bestimmung finde. Der unzweifelhaften Grandiosität des missbrauchten Werks darf dies alles keinen Eintrag tun, ist doch die beste Programmmusik jene, die sich den Hörenden mitteilt, auch wenn sie das „Programm“ nicht kennen.
Dies machte sich wohl auch Martijn Dendievel bewusst, bevor er am Freitag das Pult der Symphoniker bestieg. Ein besonderer Abend, nicht nur weil damit – und mit viel rauschendem Beifall des Publikums – die neue Hofer Konzertsaison im Festsaal der Freiheitshalle glanzvoll beginnt; schwerer wiegt, dass der junge Künstler, zuvor schon wiederholt Gast in der Stadt, nun offiziell sein Amt als Chefdirigent antritt. Kein Debüt mithin, gleichwohl ein großartiger Start, trotz des verwackelten allerersten Pizzicatos – derlei Fahrigkeiten erlauben sich die Musikerinnen und Musiker in der Folge nicht mehr. Machtvoll steigern sie Liszts Theatralik zum ersten Aufblühen der berühmt-berüchtigten Fanfare, die sie sogleich ausdrücklich lyrisch mit dem Seitenthema auf- und abfangen. Gebärdenreich nervös treibt Dendievel das Ensemble in und durch die Aggressivität tatsächlich kriegerischer Passagen – um wenig später, gleichsam weltfremd lächelnd, ein sich gen Himmel träumendes Idyll zu entwerfen. Für die Finalstrecke kleidet sich das lyrische Motiv ins Gewand eines forschen Marsches, bei dem sogar die Kleine Trommel rasselt – vielleicht ganz gut, dass nun das Stück ein Ende nimmt, nach einer mitreißenden Viertelstunde, die es in sich hatte. Dafür braucht es keine Weltkriegs-Reminiszenzen.
Einsames Scheitern
Nach der Pause erzählt Pjotr Tschaikowskys „Manfred“ nicht von soldatischen Triumphen, sondern, im Gegenteil, von einem einsamen, wenngleich mannhaft erlittenen Scheitern. Das Programm der Riesen-Symphonie: Lord George Byrons „dramatisches Gedicht“ gleichen Titels um die inzestuöse Liebe des gebrochenen Titelhelden zu seiner Schwester und seine Flucht vor ihr und beider Schuld in die Alpen und den Tod. Mag sein, dass der Komponist bei aller Mühe diesmal selber scheiterte – für die beste seiner Symphonien hielt er den „Manfred“ eine Zeitlang, dann verachtete er sie selbst. An die sechs anderen, selbst die (unterschätzten) frühen, reicht sie wahrlich nicht heran. Während einer Stunde offenbaren ihre vier Sätze nicht so viel Substanz wie Liszts „Préludes“ in einem Viertel der Zeit. Wiederholungen, Leerstellen und Leerläufe breiten sich aus, fruchtbare Motive treten verdorrend auf der Stelle, ohne dass die Musik thematisch festen Tritt fasste. Statt der seelenerschütternden Passion der sieben Jahre später uraufgeführten, unvergleichlichen „Pathétique“ baut sich der Popanz eines platten Pathos auf.
Immerhin, was an Größe in dem Werk stecken mag, kommt bei Martijn Dendievel groß raus. Wo sich Wirkungen aufrichtig entfalten wollen, greift sein Spürsinn nach ihnen, Energie-Eruptionen lässt er sich entladen, bevor er binnen Kurzem das Orchester veranlasst, einem Pianissimo nachzulauschen, das sich abrupt beinah zum Schweigen entschließt. Die Holzbläser – in der bitteren Burleske des zweiten Satzes – gebärden sich sprudelnd virtuos, das Blech peitscht grelle Jagden voran, in schmerzvollen Elegien sehnt sich die Seele des flüchtigen Sünders nach Besänftigung, und wirklich kündigt sich zu guter Letzt in der salbungsvollen Frömmigkeit von Orgelakkorden Erlösung an. Orchestrale Gottesdienstlichkeit à la „Parsifal“: Geschmackssache, nicht Glaubensfrage.
Klassisch-modern
Auf Rettung hofft Niobe indes vergeblich. Ihre Tragödie erzählt ein 2017 uraufgeführtes Violinkonzert, in dessen vier verschmolzenen Teilen der Brite Richard Blackford meisterlich an Traditionen des vergangenen Jahrhunderts anknüpft: romantisch die Instrumentalbesetzung bei allerdings starker und wirkungsvoller Beteiligung zeitgemäßen Schlagwerks; klassisch-modern die Tonsprache, die all jene unmittelbar anspricht, die etwa mit Strawinsky, Bartók, Szymanowski Freundschaft schließen konnten.
Im Internet lässt sich die Uraufführung im Prager Rudolphinum verfolgen: Damals hob Tamsin Waley-Cohen das Werk als Solistin aus der Taufe. In Hof beweist Tobias Feldmann, dass er der Britin an Intuition und technischem Vermögen nichts schuldig bleibt. Eine Rückkehr: Als Sieger (fast) aller Klassen des vierten Henri-Marteau-Wettbewerbs brillierte 2011 der damals Zwanzigjährige beim Preisträgerkonzert in Hof frühreif mit dem Violinkonzert von Jean Sibelius. Nun, künstlerisch imponierend ausgewachsen, hat ers neuerlich mit Musik zu tun, die sich Teufelsgeigerei ebenso verbittet wie Sentimentalität. Für beides ist Tobias Feldmann noch immer nicht zu haben.
Quelle der Tränen
Hörend könnte man versuchen, dem Verlauf der griechischen Sage um die kinderreiche Niobe nachzuspüren, die sich höhnisch mit der weit weniger fruchtbaren, aber rachsüchtigen Göttin Leto anlegt und von ihr in einen Felsen verwandelt wird, dem ihre Tränen fortan als Quelle entspringen. Aber man kann und darf sich auch ganz unvoreingenommen dem unerhört wechsel-, insistierend ausdruckvollen Geschehen hingeben. Denn Tobias Feldmann erweist sich als Poet mit einem an Blackfords hochexpressives Idiom genau angepassten Spiel. Auf der Schönheit der Gefühle ruht er sich nicht aus, sondern fügt sich willig, unnachgiebig, dabei zutiefst emotional der Dramatik wie der Dezenz, der flüchtigen Erdabgewandtheit wie den Schwergewichten der sich ablösenden, zu einem aufregenden Ganzen integrierten Episoden. Ein „symphonisches“ Konzert: Hypnotisch hat es der Komponist instrumentiert und dem Orchester weite Zwischenspiele auch ohne Beteiligung der Sologeige eingeräumt. Dementsprechend ummantelt Dirigent Dendievel das Geigenspiel Feldmanns filigran und abgestuft und kann sich darauf verlassen, dass der Solist seinerseits seinen Platz nicht nur vor den Symphonikern, sondern auch in ihnen findet.
Zum Schluss scheint das Orchester in ausgedehnten, so gut wie unbewegten Klängen und Flächen zu erstarren, in und über die der Geiger reue- oder mitleidvolle Linien legt, Doppelgriffe, Flageoletts … Der Komponist – zur deutschen Erstaufführung des Meisterwerks eigens nach Hof gereist und hier zusammen mit Dirigent und Solist aus gutem Grund bejubelt – vergleicht in einem erläuternden Text die sterbende Niobe mit einem Insekt, das von Baumharz langsam, aber unausweichlich eingeschlossen wird. Zu Tode betrübt scheint sie zu verenden – bis Feldmann, in der letzten Minute, schier ungezügelt dagegen aufbegehrt: Die Fliege im Bernstein lebt.
■ Der Hofer Symphoniker im Internet: hier lang.
Das letzte Wort
Der Kammerchor Hof liest den Ausbeutern der Menschen und der Erde gehörig die Leviten. Mit hoher Stimmkultur und gestalterischem Raffinement prophezeit er in seinem Programm „Warning to the Rich“ bedenkenlosem Reichtum und verantwortungslosem Materialismus ein Ende mit Schrecken.
Von Michael Thumser
Hof, 17. September 2024 – Geld macht uns nicht glücklich. Drum „singe, wem Gesang gegeben.“ Dem Kammerchor Hof ist er gegeben, in beeindruckendem Reichtum: als stimmtechnisches Vermögen ebenso wie als Fülle stilistisch unterschiedlicher Gestaltungsweisen. Dabei kann sich das in Hochfranken und darüber hinaus singuläre Ensemble – das seit 27 Jahren besteht, sich aber vor Überalterung durch Zustrom auch junger Kräfte zu bewahren weiß – darauf verlassen, dass sein Leiter Wolfgang Weser die Kehlen fortlaufend akribisch schult und nicht müde wird, mit gründlicher Werkkenntnis und erfahrenem Geschmack immer aufs Neue gehaltvolle Projekte zu ersinnen.
Geld macht nicht glücklich, aber es beruhigt uns ungemein. Wirklich? Nicht Beschwichtigung hatten die knapp dreißig Sängerinnen und Sänger am Sonntag mit ihrem Auftritt in der Hofer Kreuzkirche im Sinn, im Gegenteil. All denen, die allzu gierig den Spuren schnöden Mammons folgen, sprachen und sangen sie gehörig ins Gewissen, tadelnd und mahnend, bedrängend gar: Ausdrücklich als Warnung an die Reichen – „Warning to the Rich“ – wollte die Werkfolge verstanden sein. Wie stets bei diesem Chor verband sie Sätze aus mancherlei Epochen zwischen Renaissance und Gegenwart, um aus ungleichartigen Teilen ein Ganzes von höherer und tieferer Bedeutung zu gewinnen. Die teilt sich den Zuhörerinnen und -hörern spürbar eindrucksvoll mit.
Das Gravitationszentrum
Jenem Ganzen gibt die Motette „Warning to the Rich“ den Übertitel. In ihr verarbeitete der Schwede Thomas Jennefelt 1977 (englischsprachige) Verse aus dem neutestamentlichen Jakobus-Brief: der avancierteste und aufsehenerregendste Baustein des Konzerts und sein Gravitationszentrum. Der Chor rahmt es ein in das zwei Mal intonierte „Lied von der Moldau“ (aus Bertolt Brechts Stück über den braven Soldaten „Schweyk im Zweiten Weltkrieg“) und sagt damit, geradezu agitierend, eine heilsgeschichtliche Zeitenwende voraus: „Die riesigen Pläne der Mächtigen kommen am Ende zum Halt.“ Jene aufwieglerische Attitüde sublimiert und steigert Jennefelts zehnminütiges Chordrama zu apokalyptischem Protest. Untergründig zunächst baut das Ensemble eine Drohkulisse auf: über einer Art gesummter Litanei ein unheimlich geflüsterter Fluch, der den „Reichen“ heulendes „Elend“ verkündet. Am Ende aller Tage, so die Weissagung, werde selbst unser für unverrottbar gehaltenes Gold und Silber„verfaulen“, und der „Rost wird euer Fleisch fressen wie ein Feuer“. Sodann, in einer Sequenz fast nach Art eines Gospels, wird den Ausgebeuteten ihr gutes Recht zuerkannt. In den Schluss mischt sich eine Spur höhnischer Ironie, wenn nicht Schadenfreude: „Wohlan nun, ihr Reichen!“ Über sie hat der Chor kompromisslos das Urteil gefällt, das in der Ewigkeit verhallende letzte Wort gesprochen: „Eure Freude verkehre sich in Traurigkeit und euer Lachen in Weinen.“
Wohl kein Programmbeitrag fordert an diesem Abend den Kammerchor stärker heraus. Zum zeitgemäßen Gestaltungsrepertoire des Ensembles gehören dabei rhythmisierter Sprechgesang, frei über Tonräume gleitende Glissandi, nach denen die Stimmen gleichwohl wieder akkurat ins Akkordische finden, auch die Orientierung auf verschlungenen Umwegen durch schwer abschätzbare Dissonanzen. Dergleichen angemessen zu interpretieren, sind andernorts meist nur ausgebuffte Profis in der Lage.
Mit exquisitem Alt gleicht sich Yvonne Berg der planvollen Dramaturgie Wolfgang Wesers an; schon zuvor, bei Antonín Dvořáks „An den Wassern Babylons“, tat sich die Künstlerin mit melancholischer Farbenstärke hervor. Ferner beteiligt sich Harald Oeler als trickreicher Akkordeonist, der unter anderem mit einer Tango-Fuge aus der eigenen Komponierwerkstatt eine Brücke schlägt zwischen der Alten und der Neuen Musik des Programms.
Der Arm des Allmächtigen
Gemäßigt modern hat es begonnen: mit einem „Fecit potentiam“ des 2016 gestorbenen Finnen Einojuhani Rautavaara, das buchstäblich packend den „gewaltigen Arm“ des Allmächtigen beschwört – und auf das sich später, deklamiert von vier Solisten, dem Chor und Dorothea Weser an der Orgel, ein Satz Giacomo Carissimis als frühbarockes Pendant bezieht. Noch weiter zurück in die Ferne, ins sechzehnte Jahrhundert nämlich, führen Philippe de Monte und Jacobus Clemens non Papa: Mit dem einen und seinem „Super flumina Babylonis“ („An den Flüssen Babylons“) kontrastieren die Vokalistinnen und Vokalisten feierlich entsagend die vorangegangene Ausdeutung durch den Romantiker Dvořák; mit dem anderen und dessen „Fremuit spiritu Jesus“ über die Auferweckung des Lazarus lassen drei Solistinnen und der Chor über tragischen Worten erhaben einen Auferstehungsgesang schweben.
In eine Schlusssequenz leitet er über, die der Furcht vor ewiger Verdammnis dann doch eine elementare Zuversicht entgegensetzt. Aber genügt das, um uns Geldmenschen zu „beruhigen“, womöglich „ungemein“? Zwischen zwei Sätze aus „Jesu, meine Freude“, der bekanntesten und bedeutendsten Motette Johann Sebastian Bachs, fügt der Kammerchor ergänzend eine sinngleiche Strophe des um eine Generation jüngeren Johann Friedrich Doles ein – in unverhofft tänzerischem Dreiertakt –; und schließlich bitten Chor und Orgel, mit dem „Veni, Sancte Spiritus“ des US-Amerikaners Morten Lauridsen aus dem Jahr 1997, den Heiligen Geist als „Heilsbringer“ und „Herzenslicht“ herbei: als „pater pauperum“, Vater der Armen. Auch hier, wie bei Bach, heißt das letzte Wort: „gaudium“, Freude. Vielleicht dürfen wir, obwohl bis zur Gedankenlosigkeit mit irdischen Glücksgütern gesegnet, doch noch darauf hoffen, dass zu den Wundern des Jüngsten Gerichts dereinst auch ein Nadelöhr gehört, weit genug, um nicht bloß die Kamele, Schwachen und Elenden hindurchzulassen.
■ Der Kammerchor Hof im Internet: hier lang.