Freunde, seht! Wir leben noch!
Vor 200 Jahren fielen weite Teile der Stadt Hof einem verheerenden Feuer zum Opfer. Mit dem unerwartet raschen Wiederaufbau öffnete sich die Bürgerschaft der Kultur des Biedermeiers. Von beidem erzählt das Museum Bayerisches Vogtland.
Von Michael Thumser
Hof, 2. Dezember – Mit Hof, dem „Flachsenfingen“ und „Kuhschnappel“ seiner Fantasie, verbanden den Dichter Jean Paul schlimme und gute Erlebnisse. Nachdem er das dortige Gymnasium besucht hatte, verbrachte er im Haushalt seiner Mutter Jahre der Armut und des Darbens. Er habe hier „das meiste gelitten“, bekannte er, „aber das Beste geschrieben“, so „Das Leben des Quintus Fixlein“ oder den „Siebenkäs“ gegen Ende der 1790er-Jahre. Gut ein Vierteljahrhundert danach krampfte sich ihm das Herz zusammen: Denn er erfuhr, dass die Stadt seiner kargen Schul- und Hungerzeiten zu weiten Teilen einem Großfeuer anheimgefallen war, dem wenige Stunden genügt hatten, um aufs Gründlichste zu wüten. Er habe, schrieb Jean Paul, „nun nichts mehr, wenn ich dahin komme, zum Wiedersehen und Erinnern; die Jugend ist zwei Mal vergangen“.
Dass Brände Stadtviertel oder ganze Städte verheerten, war bis ins neunzehnte Jahrhundert hinein ein grauenvolles Gang-und-Gäbe. Kein Wunder; schon ein unkontrolliertes Flämmchen, wenn nicht ein Funke konnte ausreichen, um reihenweise Häuser, in denen damals vor allem Holz verbaut und deren Dächer meist mit Schindeln gedeckt waren, am Ende einzuäschern. Seit 1299 sind für Hof mindestens 25 kleinere und größere Feuersbrünste belegt – vor der letzten und verhängnisvollsten vom 4. September 1823.
„Hausgeschichten“ über ein „Architekturjuwel“
Über sie informiert zurzeit eine Sonderausstellung im Museum Bayerisches Vogtland mit wenigen Exponate und viel Text an Schau- und Lesetafeln. Nicht vom Stadtbrand allein berichten sie, sondern – sowohl grundsätzlich wie detaillierend am Beispiel etlicher „Hausgeschichten“ – auch darüber, wie sich aus den qualmenden Ruinen das „Architekturjuwel Hofer Neustadt“ erheben konnte: Das „Biedermeierviertel“ entlang der heutigen Ludwig- und der Karolinenstraße zwischen Oberem und Unterem Tor darf der Geschlossenheit seiner klassizistischen Fassaden wegen in Deutschland Einzigartigkeit beanspruchen. Bis heute und in Zukunft macht dies Alleinstellungsmerkmal vielerlei Anstrengungen zur stilgerechten Erhaltung notwendig – auch dies untermauert die von Sabine Schaller-John und der Museumsleiterin Dr. Magdalena Bayreuther kuratierte Schau.
Am Morgen des Schicksalstages wurde arglos Markt gehalten. Um neun Uhr aber begann Georg Christoph Krauß, der als „Kirchthürmer“ mit Frau und Sohn den rechten Turm der St.-Michaelis-Kirche bewohnte und den Auftrag hatte, aufmerksam nach möglichen Brandherden auszuschauen, die Feuerglocke zu läuten. Eine Stunde lang hörte der 75-jährige Schuster nicht auf damit. Retten konnte sich das Ehepaar danach nicht mehr: Krauß erstickte im Turm, im Gotteshaus verbrannte seine um drei Jahre jüngere Frau.
In der Ludwigstraße 18, wo in zwei zusammengebauten Häusern ein Glasermeister und ein Zinngießer ihrem Handwerk nachgingen, hatte das Unheil seinen Anfang genommen, warum, ist nicht mehr zu ermitteln. Zuvor hatte ein ungewöhnlich trockener Hochsommer die Region ausgedörrt, obendrein wehten ungünstige Winde – entsprechend rasch griff das Feuer auf die Nachbarschaft über und arbeitete sich dann beinah durch die ganze Stadt. Zum Äußersten steigerte sich die Hitze, sodass, wie der Hospitalprediger Meyer als Augenzeuge angab, selbst „der festeste Granit“ zerbarst und die Wasserreservoirs in den Höfen zu sieden begannen. „In einigen Fischkästen“, notierte der Geistliche sarkastisch bitter, „fand man schön rotgesottene Krebse“.
Ohne Obdach, Hab und Gut
Reguläre Feuerwehren mit eigens ausgebildeten Einsatzkräften gab es damals nicht. So blieb den Bürgern nur übrig, entweder das Notwendigste in Sicherheit zu bringen oder Wasser aus der Saale und unbeschädigten Brunnen in Eimern mühsam, zeitraubend und in viel zu geringer Menge herbeizuschaffen. Immerhin standen ihnen rasch herzugeeilte Helfer aus dem näheren Umland und sogar aus Adorf und Lobenstein bei. Mit Feuerspritzen, die erst umständlich befüllt werden mussten, wurden Gebäude im Gefahrenbereich begossen, damit nicht auch sie Feuer fingen. Was verloren schien, riss man mit langen Hakenstangen vollends nieder, um durch ausgebrannte Schneisen dem Feuer den Weg zu versperren.
Nach Horror, Konfusion und Höllenangst bot sich Gelegenheit, Bilanz zu ziehen. Zwar blieben die Türmer-Eheleute – kaum zu glauben – die einzigen Todesopfer des Infernos. Aber etwa dreihundert Anwesen in der Neustadt, 84 allein in der Ludwigstraße, waren in Rauch und Asche untergegangen. Von Rathaus und St. Michaelis standen nur mehr die Außenmauern. Ungefähr 700 Familien – etwa dreitausend Männer, Frauen und Kinder – hatten Obdach, Hab und Gut verloren, standen vor dem Nichts und waren auf Hilfe angewiesen. Immerhin: Sie wurde ihnen, der allgemeinen Not ungeachtet, reichlich zuteil.
Mit Eiltempo nahm wenig später der Wiederaufbau Fahrt auf. An Sammelplätzen jenseits der damals noch erhaltenen Stadtmauern wurden Riesenmengen an Bauschutt aufgehäuft und schließlich beim Straßenbau recycelt. Regierungsstellen – auch aus dem Königreich Sachsen – ebenso wie private Anbieter bemühten sich, möglichst frühzeitig möglichst ausreichend Bauholz bereitzustellen. Zu Wahrzeichen wuchsen Rathaus und St. Michaelis neuerlich empor, nicht allerdings nach den vorherrschenden klassizistischen Formeln des Biedermeiers gestaltet, sondern den historistischen Idealen der Neugotik gemäß. Optimismus keimte; gleichwohl ließ sich der Schmerz um das Verlorene so schnell nicht lindern. Die Hofer Ausstellung zitiert ein Gedicht, das an Neujahr im Hofer Intelligenzblatt die „Gefühle der Bewohner der Stadt am ersten Tage des Jahres 1824“ wiedergab: „So liegt in Asche denn, was einst viel tausend Stunden / des Menschen Fleiß erbaut und seine Kunst erfunden.“ Doch auch Mut wollten die Verse machen: „Freunde, seht! Wir leben noch!“
Elegante Einheitlichkeit
Sinnreichen, dem Brandschutz verpflichteten Vorschriften folgend, im Dekor zurückhaltend, ohne schmucklos zu sein, entstanden die Häuserzeilen an den verheerten Straßenzügen neu, den zeitgenössischen Stilmustern in variationsfreudiger Einheitlichkeit verpflichtet. Hinter den Fassaden begann biedermeierliches Bürgerleben heimisch zu werden. Der Besuch des Museums gewährt in der einschlägigen Abteilung, über dem Gewölbe der Sonderausstellung, einen Eindruck davon, wie es dort aussah und zuging.
Maßvoll vornehm sah es dort aus, besinnlich-friedlich ging es darin zu. Eine gewisse Wohlhabenheit vorausgesetzt, zogen sich die Familien in ein gepflegtes Ambiente diskreter Kultiviert- und Feinheit und auf sich selbst zurück, mithin heraus aus der immer aufs Neue aufgewühlten Außenwelt. Die war für viele brave Bürgersleute zu einem ungemütlichen Pflaster geworden, nicht nur durch die Napoleonischen Kriege, sondern, nach dem alliierten Sieg über den kriegsversessenen Usurpator, ebenso durch das darauffolgende erzreaktionäre, despotisch durchorganisierte Polizei-, Spitzel- und Zensursystem im Deutschen Bund unter dem Fürsten Klemens von Metternich. Gegen die Restauration der alten feudalen Kräfte, für eine in freiheitlicher Rechtsstaatlichkeit geeinte Nation gingen liberale Intellektuelle, Studenten, Revolutionäre in Stellung, auch wenn sie harte Repressionen zu gewärtigen hatten.
Ein Zeitalter des Gemüts
Geschützte Räume hingegen versprachen die mit nobler Behaglichkeit eingerichteten und ausgestatteten Wohngemächer, der aromatische Bücherstaub schattiger Studierstuben, die redliche Geselligkeit in den Salons. Weidlich nutzte man die erreichbaren Optionen der Künste: vergrub sich in die Lektüre treuherziger Kalender, seelenvoller Poesie, erbaulicher Prosa; die Wände zierend, über und neben den sachten Schwungformen gediegen-zweckmäßig gearbeiteten Mobiliars, hingen als Malerei, Radierung, Holzschnitt einfühlsame Porträts, humoristische Genreszenen, detailreiche Landschaften.
Das Hofer Museum, gleich im Raum hinter dem Eingangsbereich, präsentiert typische Accessoires der biedermeierlich-trauten Lebenswelt: Meerschaumpfeifen neben Tabakschachteln und -dosen, Hammerklaviere und Kommoden mit zarten Einlegearbeiten, selbstbewusste Ahnenbilder und kunstreich geätzte Gläser, manche davon dem grassierenden Freundschaftskult gewidmet, Schreibgarnituren und Lampen, sublime Bilderstickereien, einen großen Ofenschirm, bemalt mit einem Blumenstück, eine filigrane Kinderwiege.
Zwischen den eigenen vier Wänden schuf ein Volk der ‚Gemüter‘ ein Zeitalter des Gemüts: Empathisch las man einander aus Lieblingsbüchern vor, trieb Gesellschaftsspiele, ein cercle intime lauschte der Hausmusik. Das Heim und, günstigenfalls, sein Gärtchen wurden Lieblingsorte der Menschen. Zur Lieblingsstimmung wurde das Anheimelnde: An Heimlichkeiten verlor man sich plaudernd oder in Tagebuch, Album und Brief. Auch mit dem Unheimlichen hielt man es, bei Gespenstergeschichten und Märchen sich folgenlos graulend. Arglos der Schönheit weihten Empfindsame ihr Leben, der züchtigen, auch schon mal ziellosen Verliebtheit, dem Weltschmerz, der frommen Schwärmerei. Seligkeit verschaffte sich in Tränenseligkeit Luft.
Kultur des Gemeinsinns
Bei Weitem zu kurz greift indes, wer die Epoche als Hochzeit lammfrommer Spießigkeit und philiströser Friedhofsruhe unterschätzt: entstanden doch in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts – neben und zugleich mit der revolutionären Bewegung des Vormärz und des „Jungen Deutschlands“ – gleichsam in der Stille eine oft lebendig selbstbewusste, sowohl wirtschaftlich wie geistig rege Mittelschicht und eine facettenreiche Kultur des Gemeinsinns und der Bildung, eine Bild-, Wort- und Gebrauchskunst des guten Geschmacks und der dezenten Eleganz.
Vergessen ließ all das Wahre, Schöne, Gute die ausgestandenen Schrecken der Brandkatastrophe nicht. Um dem Königreich Sachsen für seine Unterstützung zu danken, benannte die Kommune eine Straße nach König Friedrich August I., „dem Gerechten“: Auguststraße heißt sie seither. Eine andere firmiert bis heute als Bürgerstraße: Anerkennung für das Stadtbürgertum, das während des Feuers und danach tapfer zusammengestanden hatte.
Sogar der 74-jährige Johann Wolfgang von Goethe, im September 1823 vom böhmischen Karlsbad her auf der Heimreise nach Weimar, hatte sich eine Woche nach dem Höllenfeuer betroffen vom „Unglück in Hof“ gezeigt, das auch unter seinesgleichen Tagesgespräch war. Unterm Datum des Elften notierte er in sein Tagebuch: „Ich fuhr um Hof herum, den gräulichen Anblick nicht zu sehen, und doch konnte man sich desselben nicht ganz erwehren.“ Glücklicherweise halfen dem „nicht ganz“ Erschütterten ein gutes Mittagessen sechs Stunden später in Schleiz und beruhigende Nachrichten, den ungewissen Verbleib von „5 Kisten Mineralien“ betreffend, dann doch schnell über die schlimmsten Eindrücke hinweg.
■ Bis zum 7. April, Mittwoch bis Freitag 12 bis 16, samstags, sonntags und an Feiertagen 13 bis 18 Uhr.
■ Die Ausstellung im Internet: hier lang.
Das Heil in der Hölle suchen
Im Roman „Lichtspiel“ verliert ein genialer Filmregisseur sich und seine „Mission“ aus Opportunismus und Selbsterhaltungstrieb im Höhlendunkel der nationalsozialistischen Terrortyrannei. Ohne Anklage erzählt Daniel Kehlmann am Beispiel G. W. Pabsts von der Schwachheit und Anfälligkeit des Ehrgeizes.
Von Michael Thumser
18. November – Zwei Mal, ziemlich gegen Ende des Romans, findet der Autor so nah zum Kern seines Themas wie selten auf den Seiten zuvor. 1945, während der letzten Wochen des totalen Kriegs, spielt die erste Episode: Da sucht der Kinomagier Georg Wilhelm Pabst das Heil in der Flucht durch die von Geschützfeuer durchdröhnten Straßen Prags. In der Trance der Panik erscheint ihm die Apokalypse wie Schnipsel aus einem Film, aus einem seiner Filme, wobei er sich selbst als ein den Weltenbrand gottähnlich inszenierender Regisseur imaginiert. Nach Jahren besessener Filmerei, heißt es, „hatte er sich so aufs Filmschneiden eingestellt, dass es ihm schien, als könnte er hier draußen weitermachen, als stünde alles, was er sah, zur Disposition“.
Kurz darauf, keine dreißig Seiten vor Schluss, erläutert Trude, als Pabsts Ehefrau auch Drehbuchautorin, dem Schauspieler Paul Hubschmid und seiner Filmpartnerin Ilse Werner die Handlung von „Geheimnisvolle Tiefe“: In einer unterirdischen Grotte sieht sich ein Höhlenforscher mit seiner von ihm enttäuschten Verlobten gefangen, umschlossen von Stockdunkel. „Davon“, deutet Trude die Lage, „handelt die Geschichte eigentlich. Dass man sich verirren kann. Seiner Mission wegen verliert er sich und ist plötzlich an einem Ort, von dem aus er nicht mehr ans Licht findet.“
„Das Spiel lernen“
So ist es: Genau davon handelt die Geschichte „G. W.“ Pabsts in Daniel Kehlmanns neuem Roman. Ein Genie des „Lichtspiels“ – so heißt das Buch – verfällt, weil ers nicht lassen kann, der Finsternis. Welten und Menschen, Leben und Fantasie in Spiele aus Licht und Schatten zu verwandeln, dazu weiß der brillante Kinokünstler sich berufen. Im Licht stand er selbst: Zusammen mit Fritz Lang und Friedrich Wilhelm Murnau gehörte er, der Schöpfer der „Freudlosen Gasse“, der „Büchse der Pandora“, zur Trias der herausragenden deutschsprachigen Kinematografen. Bis, mit dem Aufkommen des Tonfilms, sein Stern allmählich zu sinken drohte. In den USA hat man ihn abblitzen lassen, nun kehrt er halb notgedrungen, halb aus freien Stücken mit Gattin Trude und Söhnchen Jakob in seine Heimat Österreich zurück. Nach deren „Anschluss“ ans braune Deutsche Reich macht ihn der nationalsozialistische Kulturkomplex zum widerstrebend-willfährigen Spielball einer ausdrücklich propagandistischen Filmkunst. Zugleich muss er sich als missliebiger Ex-Emigrant von proletenhaft-plumper Nazi-Gefolgschaft ebenso wie von gerissen-kaltblütigen Vollstreckern beäugen, demütigen und schikanieren lassen.
In Hollywood ist ihm gesagt worden, man könne prima leben, „wenn man das Spiel lernt“. Jetzt, in Hitlers Reich, muss ers lernen: Er lernt, „nichts Falsches zu sagen“, den rechten Arm immerhin andeutend zum Gruß zu heben. „Wenn man sich daran gewöhnt hat und die Regeln kennt, fühlt man sich beinahe frei“: Er spielt mit, indem er es unterlässt, sich zu verweigern. Als Mann des Lichts und also des Sehens vermerkt er gepeinigt, wie die Entmenschung auch in seiner Umgebung um sich greift – und zieht sich, gleichsam ganz Auge, schutzsuchend in die Scheinwelt der Studios und Sets, auf die Blickwinkel der Kamera zurück. Seine Heimkehr ist eine in die Hölle, sein Vorsatz ist es, in ihr dennoch sein Heil zu suchen. „Sonst weiß ich wenig, aber wie man Filme macht, weiß ich.“ Von allem andern will er nichts wissen.
Notlage als Normalzustand
Kino machen ist Chaos. Plastisch berichtet, in figurenreichen Szenen, Kehlmann auch davon. „Wenn man einen Film macht, ist man immer in einer Notlage. Das ist der Normalzustand.“ Dass im Deutschland der Despotie, in der Welt des von Deutschen entfesselten Krieges der globale Ausnahmezustand herrscht, das verdrängt Pabst im Romans nach Kräften, sich selbst als Ersten belügend. „Eine neue und unordentliche Gattung war der Film, aber dies störte keinen, schließlich war die ganze Welt zerrüttet.“ In beides, in die Varianten der Zerrüttungen und ins Wesen des Films, schafft der Autor feinfühlig Einblick.
In der schaurigen Gestalt des Parteigenossen Jerzabek kreiert er den sadistischen Typus eines Monsters von hirnloser Unverfrorenheit. Mit einer so gearteten Volksgemeinschaft kann sich Trude, anders als der besessen kreative Gatte, nicht verstummend und stillschweigend arrangieren. In alkoholische Bewusstlosigkeit setzt sie sich ab, immer kraftloser wieder auftauchend „in die Welt der echten Menschen und festen Dinge, in der alles viel schlimmer ist“. Ganz ungeschützt erlebt Jakob, das Kind, das Unbegreifliche, Rätselhafte, Verhängnisvolle einer nachhaltig dysfunktionalen Welt – bevor er sich, nicht viel später für Führer, Volk und Vaterland entflammt, an der Front verstümmeln lässt.
Welt der Spiegelungen
Gerade die Kunst, mithin das Irreale, scheint als Mittel totaler Erkenntnis zu taugen. Im Bild fallen Sehen, Ahnen und Verkennen in eins: „Du merkst“, erfährt schon der talentiert mit Farbkreiden umgehende Junge, „dass die Welt voller Spiegelungen ist: Fast jedes Ding hält die Welt, die es umgibt, auf seiner Oberfläche fest, Lichtpunkte, Umrisse und Reflexe – alle Bilder schließen andere Bilder ein.“ Für welche Kunstform sollte das ausschlaggebender gelten als für den Film. Aber können „Meisterwerke“ deutscher Kunst entstehen, wenn der Tod, ein Meister aus Deutschland, über sie regiert? „Ja in den Tod gehen, den Tod treffen, mit dem Tod tanzen“, sagt Trude resigniert über die gefeierten Tendenzwerke des Gemahls, „all das Todeszeug macht Wilhelm jetzt sehr gut.“ Und sie fragt ihn beschwörend: „Selbst wenn sie bleibt, die Kunst. Bleibt sie nicht beschmutzt? Bleibt sie nicht blutig und verdreckt.“ Kehlmann, von Pabsts Könnerschaft erkennbar tief beindruckt, klagt seinen Protagonisten nicht an, lässt aber Trudes Frage offen. Die Antwort versteht sich von selbst: Wer sich in solche Niederung begab, findet nie mehr fleckenlos „ans Licht“.
Seit dem Sensationserfolg „Die Vermessung der Welt“ und vollends mit „Tyll“ als dramaturgisch operierender Erzähler bestens ausgewiesen, zeigt sich Kehlmann für den Stoff seines neuen Buchs auch familiär prädestiniert, noch dazu doppelt: Auch sein Vater, der 2005 gestorbene Michael Kehlmann, machte sich als Filmregisseur einen Namen; zuvor war er ein Opfer des Nazi-Horrors geworden: Als jugendlicher Sympathisant des Widerstands wurde er 1944 in einem Nebenlager des KZ Mauthausen interniert. Zwar, von einem Verweigerer des Widerstands erzählt Sohn Daniel in seinem Roman, doch tut ers fast wie in einem Film und mit dessen Mitteln. Mag auch die Prosa, ungeachtet beträchtlicher Bildkraft bisweilen befremdlich papierdeutsch klingend, sprachkünstlerisch hinter Kehlmanns Standard zurückbleiben, so lesen sich die zahlreichen Dialogpassagen doch an vielen Stellen lebhaft, gespannt und pointiert wie ein Drehbuch, etwa wenn Pabst der Lulu aus seiner „Büchse der Pandora“, Louise Brooks, wiederbegegnet, für den Lesenden hörbar von seinem einstigen Star neuerlich und immer noch erotisiert.
Kabinettstücke und kaltes Grauen
Bestechend versteht Kehlmann statische Schauplätze dynamisch zu umschreiben – nach Art einer Kamera zu umkreisen für Nahaufnahmen, Halbtotalen, Fahrten. Zwischen den Kapiteln wechseln die Protagonisten und die Perspektiven, wobei dem Autor Überraschungen und Kabinettstücke gelingen, auch Schockmomente kalten Grauens. Schon Filius Jakob, sich gegen plumpe Mitschüler wehrend, begreift in einer ihm gewidmeten Sequenz, wie dringlich er darauf bedacht zu sein hat, rechtzeitig zu „wissen, wem man wehtun muss und mit dem man sich verbündet“. Mit Goebbels, dem beschwingt-bestialischen Spielleiter der Nazi-Propaganda, kommt der Regisseur als ins Dunkel verirrter, verlorener „Missionar“ des Lichts wie in einem unterirdisch-höhlenweiten Büro zusammen, als begegnete er dem irrlichternden Quälgeist eines Albtraums. Unentrinnbar real indes offenbart sich ihm der Horror des NS-Alltags während des Drehs in einem Filmstudio bei Prag: Dort füllen, in Ermangelung anderer Komparserie, graue Scharen ausgemergelter KZ-Insassen notdürftig verkleidet die Aufnahmehalle.
Aus Salzburg lässt Kehlmann einen (fiktiven) very britischen Schriftsteller über die Premiere von Pabsts „Paracelsus“ berichten: „Wie wunderlich dunkel war das, wie deutsch und bizarr meisterlich“, staunt er – weil er als Fremdling die Sprache nicht versteht, nimmt er das Geschehen auf der Leinwand allein in den Bildern und durch sie wahr: exemplarischer Ausweis sowohl für Daniel Kehlmanns Kunst des erhellenden Erzählens wie für G. W. Pabsts allmächtige Regentschaft über die Spiele des Lichts.
Wer muss, der muss
„Klo & Co.“: In Selb-Plößberg zeigt das Porzellanikon „Sanitärkeramik vom Plumpsklo bis zu Hightech-Toilette“. Überraschungsreich nimmt sich ein Bildband desselben Themas an. Die Gelegenheit ist also günstig, ohne allzu heftige Tabubrüche ein paar Blicke in die Geschichte der Defäkation zu werfen.
Von Michael Thumser
Selb, 23. September – Als vor gut drei Jahren die Corona-Pandemie über die Welt hereinbrach und unser öffentliches Leben weitgehend lahmlegte, da horteten die beunruhigten Franzosen vor allem Rotwein und Kondome, wir Deutschen hingegen, deutlich panischer, Nudeln und – Toilettenpapier. Was damals für einen internationalen Lacher gut wahr, verweist am ernsten Ende auf die anthropologische Konstante eines Grundbedürfnisses, das in Ausnahmesituationen nach besonderer Vorsorge verlangt: Nichts muss – wie die Redensart ganz richtig feststellt – der Mensch wirklich, „außer sterben und pinkeln“. Wir alle müssen. So dringend nötig wie der Schlaf ist uns der regelmäßige Gang zur Toilette, auf der wir, je nach Statistik, binnen siebzig, achtzig stubenreiner Lebensjahre mindestens anderthalb bis zwei Jahre zubringen. Was liegen bleibt und weggespült wird, das ist Schmutz; der entleerende Vorgang als solcher indes besticht als absolut saubere Sache. Verfügt doch ein gesunder Körper über ein perfektes und komplexes, chemisch und mechanisch ungemein leistungsfähiges System zur Selbstreinigung, das ganz von selbst funktioniert. Dagegen ist für die gründliche Außenpflege der beteiligten Körperregionen unsere bewusste Sorgfalt nötig.
Nicht zuletzt am Entwicklungsgrad der Toilettentechnik lesen wir die Höhenstufe unserer Zivilisation ab. Kulturnationen haben die Entäußerung nicht nutzbarer, teils stark schadstoffhaltiger Restsubstanzen des menschlichen Stoffwechsels dem Blick der Allgemeinheit entzogen, fast ebenso gründlich wie den Vorgang realen Sterbens. Im Kino und Fernsehen dürfen wir tagtäglich nackte Paare beim Liebesspiel beobachten und tun es längst so gleichgültig, dass jeder Vorwurf schmierigen Voyeurismus schon im Keim ersticken müsste; hingegen wird uns die Entleerung einer Blase nur vereinzelt und die eines Darms so gut wie niemals televisionär oder cineastisch zugemutet. Fäkalien bleiben ein Tabu: Als Stoff zur Pointe gehören sie ins Reich der abstoßenden Zote; das moderne Leben in Häusern und Städten lässt sie in Rohrleitungen, Kanalisationen, abseitigen Klärbecken verschwinden; und Gespräche über Verdauungs- oder urologische Probleme führt der salonfähige Zeitgenosse so, als ob er von einem Schicksalsschlag berichtete - und überhaupt am besten nur mit einem diskreten Mediziner seines Vertrauens.
In Selb-Plößberg aber nimmt man zur Abwechslung mal kein Blatt vor den Mund. Dort rückt die Ausstellung „Klo & Co.“ viel Historisches, Gegenwärtiges und Futuristisches über „Sanitärkeramik vom Plumpsklo bis zur Hightech-Toilette“ vor die Augen und bringt dabei so manches delikate, unterhaltsam überraschende oder unbedingt wissenswerte Detail aus der Welt des Defäkierens und Wasserlassens zur Sprache. Was ohne falsche Scham geschieht; was sollte die auch? Babys, die nie unverschämt, aber immer schamlos sind, finden keineswegs, dass schlecht rieche, was ihre Südhälften Tag für Tag verausgaben. Im Gegenteil: Wohl alle Eltern, anfangs schockiert, erfahren ziemlich früh, dass ihr liebes Kleines ein freundliches, wenn nicht gar kreatives Verhältnis zu seinen von Stoff- oder Einwegwindeln aufgefangenen Ausscheidungen pflegt. Erst Mama und Papa belehren den Nachwuchs, dass „Stinker“ und „Pipi“ in einem zivilisierten Menschenleben als unziemlich und darum als „bäh“ zu gelten haben. Wer jene Prägung, eine der frühen, folgenreichsten und dauerhaftesten, anthropologisch betrachtet, kann bei genauerem Nachdenken nicht anders, als sie für ziemlich kindisch zu halten. Joana Mylek, die Kuratorin der Selber Schau, und ihre Mitarbeitenden haben genauer nachgedacht. Im attraktiv gestalteten Ausstellungsraum mit seinen sinnvoll genutzten Nischen und „stillen Örtchen“ illustrieren sie so anschaulich wie überzeugend, dass wir ruhig für eine Selbstverständlichkeit halten dürfen, was eine Lebensnotwendigkeit ist.
Wenn wir mal „austreten“ müssen, verlassen wir den Kreis der anderen, um unser „Geschäft zu verrichten“. Vielleicht sagt man so, weil man sich auf dem Lokus mit sich ganz allein beschäftigt, strebsam, wenn auch nach Möglichkeit isoliert und in aller Ruhe. Locus bedeutet schlicht Ort und kommt aus dem Lateinischen. Die antiken Römer hatten für ihre öffentlichen latrinae ein ausgeklügeltes Entwässerungssystem ersonnen. In ihrer Metropole und den größeren Städten des Imperiums diente das Örtchen – gegen Eintrittsgeld – als Ort nutzbringender Geselligkeit, wo die Männer, während sie das Abdomen tun ließen, was ihm guttat, Handel trieben, Vereinbarungen schlossen, Informationen und Gerüchte tauschten. Gut vorstellbar, dass die leiblich erfahrene Entspannung auch die wirtschaftlichen Kontakte entkrampfte. Deutlich simpler ging es auf den Straßen zu: Dort luden Amphoren den Bedrängten zum Wasserlassen ein; den Inhalt, nach einer Zeit der Lagerung, konnten Gerber und Wäscher gut gebrauchen. Dem Kaiser Vespasian fiel ein, auf den gesammelten Urin eine Steuer zu erheben – was seinem Sohn Titus empörend in die Nase stach. Doch der gerissene Papa hieß ihn an einer Münze schnuppern. Non olet, es stinkt nicht, lautete, schwerlich widerlegbar, sein Gegenargument. Als geflügeltes Wort tönt es seither durch Welt und Zeiten: In Frankreich heißt eine spezielle Spielart des Urinals Vespasienne.
Erst das Leben in größeren Siedlungen veranlasste die Gemeinschaft, sich über ihre Exkremente infrastrukturelle Gedanken zu machen. Also mussten, sobald aus Individuen und Sippen sich Verbände bildeten, Planer und Architekten tätig werden. An den vortrefflichen Vorbildern altrömischer Lebenskunst wollten sich die Menschen des weniger finsteren als stinkenden Mittelalters nicht orientieren. Vielerorts war frische Luft, erst recht Hygiene Mangelware, schon darum, weil die Menschen, beinah wie die Tiere, unter sich ließen, wo sie gingen und standen; am unschädlichsten noch von Festungserkern herab in den Burggraben oder auf Misthaufen, von denen es auch in Weilern, Dörfern, Städten viele gab. Oder sie verrichteten, als unbehelligte „Wildpinkler“, ihre Notdurft einfach auf Straßen und Gassen, die darum ein widerwärtiger, von Krankheitserregern tödlich durchseuchter Schlamm knöcheltief bedeckte. Noch im Zeitalter achtspuriger Autobahnen mit Flüsterasphalt erinnert das Wort Kotflügel an jene jahrhundertelang anhaltenden Missstände.
2000 Räume und 1 Klo
Vornehmlich zur Aufnahme des nächtlichen Geschäfts diente der Nachttopf, von denen das Selber Museum Exemplare aus Steingut und Porzellan, Blech und Glas, von mancherlei Format und in unterschiedlicher Gestalt aufbietet. Ohne viel Federlesens ließ sich solches „Nachtgeschirr“ aus dem Fenster entleeren. Dem wasserumwallten Inselreich der Briten verdankt sich die doppelte (Wieder-)Erfindung des Wasserklosetts. 1596 fertigte Sir John Harrington für seine hochverehrte Königin Elizabeth I. einen Abtritt mit Wasserkasten und einem Ventil, durch das sich das Abflussrohr verschloss – und musste erleben, dass der ingeniöse Einfall ihn bei seinesgleichen unmöglich machte. Bis 1775 Alexander Cummings sein water closet – mit Siphon als Geruchsverschluss – patentieren ließ, errichtete der französische Sonnenkönig Louis XIV. in Versailles eines der weitläufigsten Schlösser der Welt, dessen Baumeister allerdings zwischen zweitausend Räumen (einschließlich Kapelle und Theater) nur einen einzigen regelrechten Lokus für nötig hielten. Mithin verbreiteten sich die Hinterlassenschaften des Hofstaats und der Festgesellschaften zwischen den Gewächsen des angrenzenden Parks, und zwar so aufdringlich, dass ein Besucher notierte, ihm sei „beim Geruch der Gärten übel“ geworden.
Wie Selb demonstriert, erleichterten „Kack-“ und gepolsterte „Leibstühle“, Reisetoiletten und -bidets den Menschen, die sichs leisten konnten, die Erleichterung auch unterwegs. Im Porzellanikon prangt mit anmutiger Schwungform und preziösem Farbdekor die Nachbildung eines Bidets, in dem einst die österreichische Kaiserin Elisabeth alias Sisi den royalen Unterleib badend reinigte. Für die große Allgemeinheit in Europa standen seit dem vierzehnten Jahrhundert vereinzelt, seit der Wende des achtzehnten zum neunzehnten Jahrhundert vermehrt öffentliche Abtritte zur Verfügung. Die gabs übrigens, rastlos beweglich, obendrein in Menschengestalt: Wer, zum Beispiel in Wien, auf der Straße unter Druck geriet, wandte sich an den „Abtrittanbieter“; der öffnete seinen weiten Umhang, wo der Kunde einen Bottich vorfand, in den er sich, vom Mantel des wenig frisch duftenden Dienstleisters verborgen, entleeren konnte. Dazu passt, dass der Begriff Toilette von französisch toile, Tuch, herrührt: In diesem Fall, könnte man meinen, bezeichnet es einen Schleier der Verschwiegenheit.
Dazu schaut, was gegenwärtig in Japan als Standard gilt, aus wie das genaue Gegenteil: Dort empfehlen Spezialanbieter für den höchstpersönlichen Lebensbereich im Eigenheim oder hochklassigen Hotel Hightech-Toiletten mit Musik und Fernbedienung, die den verwöhnten Popo massieren, mit temperiertem Wasser besprengen, mit Warmluft föhnen … – die animalische Ursituation der Ausscheidung im Zeichen grenzenloser Machbarkeit wider alle Vernunft. In Selb lässt ein Wandtext wissen, dass derlei Luxus- oder Lustobjekte sich in kaum glaublichen siebzig Prozent der japanischen Haushalte finden – hierzulande in gerade mal drei Prozent –, wobei die Erfindung ursprünglich aus der notorisch reinlichen Schweiz stammt. Wohl jedem redlichen Mitteleuropäer schlägt da – nicht nur am „Welttoilettentag“ jährlich am 19. November – das Gewissen: Im Jahr 2000 mussten sich etwa 1,3 Milliarden Menschen, 21 Prozent der damaligen Erdbevölkerung, ohne jede sanitäre Einrichtung behelfen; ein skandalöser Zustand, der sich während der vergangenen zwei Jahrzehnte zum Glück deutlich und erfreulich besserte: Der jüngsten Statistik der Weltgesundheitsorganisation zufolge wird heutzutage noch von knapp einer halben Milliarde Menschen (sechs Prozent) „offene Defäkation praktiziert“. In der Ausstellung zeigen Fotos hier festgefügte, dort roh zusammengezimmerte Klohäuschen, -büdchen, -hüttchen in der mongolischen Wüste, auf Chinas Seidenstraße, über einem Stück Meeresküste vor Papua-Neuguinea.
Just an einem 19. November kam Arnaud Goumand zur Welt, der es, eigenem Bekunden zufolge, für gut möglich hält, eben darum für ein Buch zur „Kulturgeschichte der Toiletten“ prädestiniert zu sein. Auf 220 Seiten rückt er „Stille Örtchen“ ins rechte Licht, vor allem als „Kuriositäten-Kabinette“; und nicht zuletzt als „Objekte der schönen Künste“. Zum Beispiel kann man einem Herrn zusehen, der sich anschickt, ein Urinal im „Bell Inn Restaurant“ im englischen Tucehurst zu benutzen: Es hat die Form einer Tuba, mit dem aufnahmebereiten Trichter nach oben. Und natürlich kommt im Buch das erste ready-made der Kunstgeschichte vor, „Fountain“, jenes Pinkelbecken, das Marcel Duchamp 1917 um neunzig Grad kippte, um es zum (wasserlosen) „Brunnen“ umzuwidmen. Löblicherweise wendet sich Goumand – ebenso wie das Selber Museum – nebenbei auch dem Toilettenpapier zu, jenem „grundlegenden Bedarfsgut“, das unmittelbar nach Ausrufung der Corona-Krise die Deutschen horteten, als gäbe es kein Morgen.
Dabei vergessen wir gern, dass dies unabdingbare Hilfsmittel in der langen Weltgeschichte des Klos sozusagen vorgestern in Erscheinung trat: Als Fabrikerzeugnis kam es 1857 in New York erstmals auf den Markt, zunächst, mit Aloe getränkt, in Päckchen, 1890 auf Rollen und perforiert. Erst in den 1970er-Jahren begannen Produkte aus weichem Zellstoff die bisher peinvoll kratzenden Vorläufer abzulösen. Und doch gingen von da an noch einmal über vierzig Jahre ins Land, bevor China seine „Toiletten-Revolution“ ausrief: Ab 2015 ließ der Staats- und Parteichef höchstpersönlich über hunderttausend öffentliche Toiletten im Riesenreich neu installieren oder modernisieren, vor allem in Touristengebieten und auf dem Land. Dabei steht die Kampagne einer maßgeblichen Absicht der Politik Xi Jinpings direkt entgegen: Ob als Abtritt ohne Trennwand und Papier, ob als zeitgemäß modernes und sauberes Örtchen, so oder so gehört die Bedürfnisanstalt zu den letzten Orten, an denen die Obrigkeit der Bevölkerung nicht überwachsam überwachend auf den Fersen sein kann – und die darum im Ruch stehen, Brutstätten von Dissidententum und Widerstand zu sein.
Eine zweischneidige Revolution mithin, und eine von oben wohlgemerkt, wenn sie auch beinah 1,4 Milliarden Menschen gleichsam ‚untenrum‘ betrifft. Während sich China solcherart mühsam an das westliche Normalniveau heranarbeitet, rauchen andernorts die siebengescheiten Köpfe der Erfinderinnen und Erfinder immer weiter: Im April trafen sich im schweizerischen Genf achthundert Aussteller zu einer Messe, von denen etliche danach trachten, unseren Leibern noch angenehmer und unverfänglicher zur verdienten Druckfreiheit zu verhelfen. So zog ein Toilettenpapierhalter mit mattem Licht die Blicke auf sich, der beim Stuhl-Gang in nächtlichem Dunkel den zielgenauen Griff nach der rettenden Rolle vereinfacht. Aus Bayreuth kam Uwe Bezold, dem es nicht länger gefiel, nach Beendigung einer Sitzung im öffentlichen Raum die möglicherweise kontaminierte Klobürste anfassen zu müssen: Die von ihm erdachte, schlicht-elegante Vorrichtung namens „Cleanstem“ putzt, vor dem Zugriff, durch den Tritt auf eine Fußtaste den Bürstenschaft mit einem Desinfektionsmittel.
Anders als viele vermuten, bedrohen uns Krankheitserreger nicht meistenteils auf der Klobrille, sondern am Hahn des Waschbeckens und an der Türklinke. Als uns 2020 Corona überfiel, hofften wir, wenigstens isoliert in der Einzelzelle einer öffentlichen Toilette vor Ansteckung sicher zu sein. Doch wir irrten: Chinesische Forscher spürten bald der „urinbasierten Übertragung“ von Sars-CoV-2-Viren nach, die das Wasser der Spülung mitsamt allerlei anderen Keimen in winzigen Tröpfchen aus der Schüssel emporschleudert, bis zu einem Meter weit. Wirklich frisch ist die Luft auch im modernen Klo ja nie.
■ Porzellanikon – Staatliches Museum für Porzellan –, Selb, Werner-Schürer-Platz 1; bis zum 26. November, dienstags bis sonntags sowie feiertags von 10 bis 17 Uhr.