Doppelgänger sterben zwei Mal
Aus dem blutigen Paris der Französischen Revolution ins bourgeoise London und zurück: Das Theater Hof zeigt Charles Dickens’ „Geschichte aus zwei Städten“ als Musical. Die Uraufführungsproduktion peitscht den Wellengang des Ärmelkanals zwischen den Nationen gehörig auf, doch über Untiefen.
Von Michael Thumser
Hof, 11. November – Nicht, dass man nicht vorher schon verwirrt gewesen wäre. Aber die finale Wendung macht die Konfusion perfekt. Da besteigt der Strahlemann des Stücks die Guillotine: Ein messerscharfes Geräusch aus den Lautsprechern – und ab ist die hübsche Rübe. Aber gleich danach tritt er schon wieder ungestüm unter die Lebendigen, lächelnd wie den ganzen Abend über; um Sekunden später umso schmachtender in einem Kerker seine Hinrichtung zu erwarten. Demgemäß besteigt er neuerlich das gräuliche Schafott – die Klinge fällt wiederum auf seinen Nacken – doch unversehens soll es diesmal ein ganz anderer gewesen sein, der sein Blut verspritzte. Wie geht das zu? Wer nicht die fünfhundert Seiten von Charles Dickens’ „Geschichte aus zwei Städten“ gelesen hat (oder zumindest die gründliche Online-Inhaltsangabe bei getabstract), sitzt nach zweieinhalb Theaterstunden ratlos da. Er mag sich mit der Einsicht trösten, dass ihm soeben von einem Paar Doppelgänger erzählt worden ist: Solche Leute sterben zwei Mal.
Für Verwirrung haben schon zuvor – drängender noch als die handelnden Personen durch ihre hohe Zahl – sowohl die enorme Dichte der Ereignisse als auch eine verstörende Serie beträchtlicher Zeitsprünge und die überschnellen Wechsel zwischen sehr unterschiedlichen Schauplätzen gesorgt. Anders gehts auch nicht: Immerhin wollen zwei illustre Metropolen angemessen illustriert werden. Zwischen ihnen ist die Welt geteilt. Sie ist es heute: zwischen Russland und der Ukraine, überhaupt wieder zwischen Ost und West, nicht anders zwischen Muslimen und Juden …; seit jeher zwischen Not und Reichtum, Übermacht und Unterlegenheit. Im spannend-gefühlvollen Roman des großen englischen Romanciers dehnt sich die Scheidelinie zwischen dem Paris der Französischen Revolution und dem London einer königstreuen Bourgeoisie und lässt sich kaum mehr überwinden.
Umsturz, Mordgier, Terror
Heutzutage schaut der Tod allenthalben zum Fenster hinein: aus jedem Fernseher heraus. Auch in Hofs Großem Haus, nämlich im Musical „A Tale of two Cities“ und also vor gut 230 Jahren, ist er stets präsent, schon durch das zigfach aufblitzende, aufspritzende Geräusch des Fallbeils; erst recht, weil das Mordinstrument selbst, expressionistisch schräg errichtet, wie ein monströses Damoklesschwert das Spielfeld dominiert und seine Pflichten umstandslos erfüllt. Die „zwei Städte“ des Titels – vom tumultuarisch beteiligten Chor atemlos besungen – integriert Herbert Buckmillers Drehbühnenbild zu einem britisch-französischen, nämlich blau-weiß-rot bestrahlten Einheitsort von hoher Beweglichkeit: Steile Stellagen mit Treppen und Balkons ergeben, während des laufenden Spiels wandelbar konfiguriert, immer andere Schauräume. Wer im Publikum wissen will, wo er und die sich überstürzende Handlung gerade Station machen, liest dies von einer Leuchtschrift über dem Geschehen ab.
Die multiplen Orte mitsamt dem sprunghaften Zeitverlauf finden in Sonnyboy Charles Darney zusammen. Der verdingt sich in London als braver Sprachlehrer, ist in Wirklichkeit jedoch ein französischer Marquis aus dem Geschlecht derer von Evrémonde, der „meistgehassten Familie Frankreichs“. Weil sein Onkel (Ralf Hocke) ein schmähliches Verbrechen auf sich lud, entsagt er den Hohlheiten des Aristokraten-Luxus, ehelicht in England Lucie, die Tochter des nach langer unverschuldeter Haft in der Bastille freigekommenen Arztes und Menschenfreunds Doktor Manette, kehrt trotzdem, aus humanitären Gründen, in das von Umsturz, Mordgier, Terror verpestete Paris zurück, wird ergriffen, eingekerkert, zum Tod verurteilt. Dass er entkommt, verdankt er Carton, einem verkommenen Schlucker und „jämmerlichen“ Schluckspecht: Dem Gefangenen wie aus dem Gesicht geschnitten, erweist er sich durch radikale Hingabe als Seelenaristokrat von gleichem Edelmut.
Im Hofer Auftrag entstand das Musical und ging mithin als Uraufführungsproduktion in Szene. Nicht allein für die gediegen-gefällige (von den Symphonikern unter Michael Falk allerdings oft unpräzis und holzschnittartig zubereitete) Musik mit ihren einprägsamen Leitmotiven, dramatischen Gewitterwolkenballungen und lyrischen Sentimenten, ebenso für Dialogbuch und Songtexte gewann der Intendant den Briten Paul Graham Brown. Als Koryphäe gilt er hierzulande – nicht anders als Uwe Kröger, der mit gattungsüblichen Mitteln die Regie für ein Revolutionsstück übernahm, das die Gattung nicht gerade revolutioniert. Dem gefeierten Musicaldarsteller blieb vielerorts nicht viel anderes übrig, als in Schicksalsmomenten, Gefühlsergüssen und Massenaufläufen (mit aufgespießten Delinquenten-Köpfen) die Oberflächen der ungleich substanzielleren Romanvorlage abzuernten: Zum Teil beträchtlich zwar nimmt der Wellengang des Ärmelkanals zwischen den Nationen zu, doch über Untiefen.
Die Bestie des Volkswillens
Demzufolge vordergründig, wenn auch meist wacker schlagen sich die Protagonisten: so Yngve Gasoy-Romdal als Doktor Manette, über eine angeknackste Würde gebietend, die seinem traumatisierten Charakterhaupt entspricht; oder Stefanie Rhaue, die als seine Hausdame Miss Pross couragiert (und etwas krampfhaft) auftrumpft. Thilo Andersson bewahrt sich als Revolutionsführer Defarge Reste mäßigender Vernunft; demgegenüber macht Yvonne Prentki als seine dämonische Madame mit rigider Selbstbehauptung in ihrem Sopran Freude und als entfesselte Bestie des Volkswillens Angst und Bange. Am innigsten kommt das Stück in der Gestaltung Birgit Reutters zu sich: Ins Weiß besonnener Unschuld, später schillernd in ein marianisches Blau der Sehnsucht und Klarheit gekleidet (Kostüme: Annette Mahlendorf), kommt sie dem empfindungsvoll-starken Typus, wie Charles Dickens ihn in der Figur entwarf, stimmschön sehr nah.
Farblos blass hingegen: Stefan Reil als ihr Ein und Alles Darney. Ihm ist noch und gerade im dramaturgisch verunglückten Schlusstwist Jannik Harneit als Carton gesanglich und emotional weit voraus: nicht als spiegelbildlicher Konkurrent um Lucies Hand, schon gar nicht triumphierend als fiebriger Ersatzmann, sondern durch den verzichtend stillen Enthusiasmus eines Opfermuts, der es ernst meint bis zum Tod. Was zwischen den beiden in Hof geschieht, gab es in der Kulturgeschichte der Doppelgänger wiederholt: Sie berichtet von vielen Fällen, in denen der eine dem andern die Schau stiehlt.
■ Als Grundlage der Rezension diente die zweite Aufführung am 8. November.
■ Die Orchesterarrangements besorgte Lucia Birzer, die auch den Chor einstudierte. Die Übersetzung des im Original englischen Stücktexts stammt von Moritz Staemmler.
■ Informationen über die Produktion und weitere Vorstellungen im Internet: hier lang.
Wie man verloren geht
Das Theater Hof prunkt mit einem Frühwerk Andrew Lloyd Webbers. In „Tell me on a Sunday“ legt Cornelia Löhr als gefühlsgierige Engländerin in Manhattan eine tragikomische Liebes- und Lebensbeichte ab: Ungetrübtes Glück gibts nur im Bilderbuch, und „auf Träume ist kein Verlass“.
Von Michael Thumser
Hof, 28. September – Der Sprung über den Großen Teich wird leicht zum Sprung ins kalte Wasser. Im Studio des Theaters Hof darf sich eine junge Frau gut eine Stunde Zeit nehmen, um zu erzählen, wie sie sich der Liebe wegen vom Westen Londons nach Manhattan aufmachte, um sich und ihr heißes Herz einer emotionalen ice bucket challenge nach der anderen zu stellen. Mit „Tell me on a Sunday“ feierte das Premierenpublikum (passenderweise am Sonntag) nicht einfach ein Kammermusical von vielen, sondern ein besonders gelungenes aus der Werkstatt des Gattungsgottes Andrew Lloyd Webber; ein beachtliches Frühwerk noch dazu, das der Komponist zwischen 1979 und 2016 allerdings wiederholt und tiefgreifend um- und ausarbeitete. „Dies mag die kleinste Show sein, die er je geschrieben hat“, urteilte ein Rezensent der BBC, „aber die Partitur (zu den unterhaltsamen Texten von Don Black) enthält einige seiner besten Songs.“ Da kann nur zustimmen, wer jetzt die Rarität in Hof erlebt.
Kein Liebesreigen – nur eine Reihe von Liebesgeschichten, Liebesversuchen; und man kann Emma nicht vorwerfen, sie wiederhole sich dabei. Ihr erster, vergleichsweise blasser Partner geht bald fremd; den zweiten findet sie unter den Tycoons, „Monstern und Supermännern“ Hollywoods, der aber lässt sie viel zu viel allein; zurück in Greenwich Village, probiert sies mit einem Geschäftsmann, der indes mit reichlich Lug und Trug handelt; beim Vierten akzeptiert sie eine Weile, ihn sich mit einer Ehefrau teilen zu müssen –als heimliche Hotelzimmer-Geliebte rangiert sie bestenfalls als die „Nummer zwei“. Immerhin kommt sie an eine green card: Wenn sie auch bei keinem ihrer Männer bleibt – sie bleibt doch in New York. Zu Hause ist dort darum noch lange nicht.
Die Frau mit dem Koffer
Im Gegenteil. In Hof gibt Cornelia Löhr die Transatlantikerin geflissentlich als Frau mit Koffer. Auf der raffiniert-sinnfälligen Puppenstuben-Szenerie von Ausstatterin Aylin Kaip öffnet sie nach und nach drei spitze, weiße Wolkenkratzerchen, um es sich darin auf weichen Polstern gemütlich zu machen; trotzdem bleibt sie gleichsam obdachlos – eine Frau auf Reisen, die keine leichten Touren sind. Auseinandergefaltet, formieren die Schranktüren der Hochhäuschen aufs Ansehnlichste eine Mini-Skyline mit Videowänden, auf denen, zum Beispiel, die goldenen Dollarzeichen auf den Glücksrädern einer slot machine Erfüllung und Erfolg verheißen. Ein Schwindel: „Auf Träume“, heult Emma einmal am Boden zerstört, „ist kein Verlass.“
Zuvor hat sie unverdrossen einen Anlauf um den anderen genommen, immer aus einer Enttäuschung zu einem weiteren „Neubeginn“ ihres „Bilderbuchglücks“. Laut, leicht und mit unermüdlicher Kondition entfesselt Cornelia Löhr unverlorene, unverfrorene Jugend-Temperamente, mit markigem Musical-Sopran singt sie Emmas kindlich-fiebrige Lebensgier und -freude heraus. Rockig, jazzig, swingend von einer Backstage-Combo unter der Klavierdirektion von Rebecca Lang begleitet, wechselt sie sinnlich und robust von der Gardinenpredigt für den ersten Ex zur Champagnerlaune, wie er sich für die Reichen und Schönen im gleißend luxuriösen Beverley Hills gehört, vom Katzenjammer zum nächsten Sturm der Liebe. Zum Sturmangriff auf die Liebe: „Ich geh nicht verloren“, brüstet sie sich und schreibt es der fernen Mama in launigen Briefen, die wie Wunschzettel eines kleinen Mädchens klingen. Sie wills erzwingen: So hoch fliegt sie wie ihre Pläne und rappelt sich nach jedem Absturz taff wieder auf.
Am Ende gehts schief
Freilich schrumpft und schwindet so allmählich ihre Resilienz, während die Resignation wuchert, bis sie in keinen Koffer und erst recht auf kein Blatt Papier mehr passt. Gern lacht Cornelia Löhr, doch endlich unter Tränen: Das kalte Wasser steht ihrer Emma schließlich bis zum Hals. Bei allem Spaß, den ihre Liebes- und Lebensbeichte den Zuschauenden macht – und am Premierenabend wollten sie gar nicht aufhören, die Interpretin und ihre Instrumentalisten mit Beifall zu überschütten –, sie bekommen es doch mit der Tragikomödie einer hoffnungstrunkenen, indes traurigen Existenz zu tun: „Was immer ich anfange, es geht am Ende schief.“ In Florian Lühnsdorfs Inszenierung wird das schöne, aber gefühlskalte Eisweiß der Millionenmetropolen-Silhouette dem Stoff gerecht, indem es sich der Herzenswärme in Emmas verloren trudelnder Seele unüberbrückbar entgegenstellt. Nicht einfach eine Schlagerparade lässt der Regisseur abspulen; vielmehr formt seine Protagonistin (und Ehefrau) aus den – melodisch und rhythmisch teils hochkomplexen – Gesangsnummern einen szenisch-narrativen Song-Zyklus, einen Liederkreis mit beklemmend losen Enden.
„Alles geht vorbei“ – nicht nur der Liebeskummer, auch und zuallererst die Zeit, die niemand zurückholen kann. In den Videos (von Krtistoffer Keudel) taucht zeichenstark auch eine Art ewiger Sanduhr auf, die sich, kaum dass sie ausgelaufen ist, von unten jedes Mal aufs Neue füllt, um sich immer wieder zu entleeren … Wär es so: Schön wärs.
■ Als Kombo musizierten bei der Premiere Rebecca Lang (Klavier, Leitung), Frank Gareis, Saxofon, Martin Seel, Flöte, Wolf-Dieter Zastrow, Cello, Ralf Wunschelmeier, Bass, und Harry Tröger, Schlagzeug.
■ Informationen über die Produktion und weitere Vorstellungen im Internet: hier lang.
Alles, bloß kein Weib sein
Mit Mozarts „Zauberflöte“ startet das Theater Hof zeitgemäß, szenisch spektakulär und musikalisch beachtlich in die neue Spielzeit. Kerstin Steeb inszenierte die abstruse Handlung von einst als „dystopisches Märchen“ von heute, bei dem vor allem Scheinwerfer und Licht die Bühnenwelt erschaffen.
Von Michael Thumser
Hof, 26. September – Eigentlich ist alles ganz einfach: Das Böse ist dunkel, das Gute ist hell. Wer je „Die Zauberflöte“ für Schwarz-Weiß-Malerei hielt, darf sich hier bestätigt fühlen, allerdings nur auf den ersten Blick. Denn so wie in Wolfgang Amadeus Mozarts beliebtester Oper verwischen sich die scheinbar eindeutigen Scheidelinien allmählich auch in Hof, wo das Theater am Samstag mit einer konsequenten Überschreibung ziemlich spektakulär und unter reichlich Publikumsjubel in die Spielzeit startete. Nicht gerade neu, aber mit ambitionierten Akzentsetzungen erzählt Regisseurin Kerstin Steeb die notorisch abstruse Geschichte, indem sie namentlich junge Frauenfiguren aus der Unschuldsengelhaftigkeit herausholt, die ihnen das Original verordnet: Der „Führung weiser Männer“ bedürfen sie nicht länger.
Obendrein punktet die Aufführung durch neue Dialoge aus der Feder Ivana Sokolas. Zwar hat auch die wiederholt preisgekrönte Theaterautorin den „Prüfungsquatsch“ und das aufdringlich salbadernde Pathos aus der Handlung nicht ausmerzen können; gleichwohl mutiert die Läuterungsgeschichte trotz Gags und Witz – was nicht dasselbe ist – ernstzunehmend zum „dystopischen Märchen“, wie Jan Hendrik Neidert im Programmheft resümiert. Daran lassen seine Bilder keinen Zweifel: Stellenweise könnte ihre elektrisierende Großartigkeit ebenso gut von irgendeiner renommierten Großstadtbühne stammen.
Eine Art von „Geworfensein“
Unterhaltsam in unaufdringlichem Gegenwartsjargon, zwischendurch unerwartet lyrisch-expressiv sprudeln die Sprechtexte; auch gelegentlich anstößig, sodass fortan in der „Zauberflöte“ sogar Sätze möglich sind wie dieser: „Wir wurden auf diese Welt geschissen.“ Mit solch drastischer Revidierung des heideggerschen „Geworfenseins“ raubt Prinzessin Pamina dem Vogelfänger Papageno seine Illusionen. Deutlich wird, in was für einer schlimmen Welt Emanuel Schikaneders Geschichte aus dem Wien des Jahres 1791 jetzt, im Hof des Jahres 2023, spielt. Binnen weniger Generationen zugrunde gerichtet, ist die Erde zu einer Abraumhalde (mit verkohlter Waschmaschine) verkommen, und der Mensch, unentschuldbar schuldig, hat nicht verdient, selber mehr und anderes als Müll einer von ihm vernichteten Schöpfung zu sein.
Der erste Akt zeigt den schwarz ausgebrannten Grabhügel einer überheblichen Zivilisation, tag-, zukunfts- und hoffnungsferne Sphäre der Königin der Nacht: Die Hof-Debütantin Laura Braun, bei ihren Koloraturen und Spitzentönen durch gläserne Arabesken und extreme Treffsicherheit imponierend, steht in der Rolle als schlank-hohes, halb pflanzliches, halb geisterhaftes Wesen beispielhaft auch für den Einfallsreichtum und die Fantastik der (teils aus Taschen, Beuteln, Rucksäcken komponierten) Kostüme von Lorena Diaz Stephens. Bei aller lästerlichen Rachgier macht die Herrscherin was her, und auch ihre drei hexenhaften Erfüllungsgehilfinnen – Inga Lisa Lehr, Marta Mika und Stefanie Rhaue, im Transporter auf die Bühne einfahrend – nehmen, statt schrill zu geifern und zu keifen, durch unangefochtenen Wohllaut für sich ein. Das sogenannte Böse hat schon immer fasziniert.
Ist das Böse immer und überall? Nicht im leeren, glatten, weißen Lichtreich Sarastros, den Michal Rudzińskis tiefsinnig tiefer, wenn auch nicht ganz fester Bass mit selbstherrlicher Salbungsfülle ausstaffiert. Bei einem Gebieter wie ihm, so könnte man meinen, hat das Wahreguteschöne unantastbar lauter seine Heimat. Aber es kommt auch vor, dass die pastorale Rhetorik des selbst ernannten Edelmenschen sich als hohl, Sarastro sich als einigermaßen anmaßend entlarvt. Umgekehrt entpuppt sich Monostatos, der einzige schlimme Finger in des Gurus „heiligen Hallen“, buchstäblich als gerupftes Huhn und jedenfalls als armer Hund: Unter lauter Gutmenschen erleidet Markus Gruber ergreifend die „schlimme Hölle Einsamkeit“, in der „alle Dinge weg von mir“ streben, und bringt es zustande, dem Scheusal Spuren tragischer Tiefe aufzuprägen.
Patchwork mit feinen Nähten
Aus den auf solche und andere Weise hervorgehobenen Lücken, Brüchen, Widersprüchlichkeiten des Stoffs macht Ivo Hentschel am Pult der Symphoniker eine Tugend. Von der eingangs majestätisch auftrumpfenden, sogleich davonfedernden Ouvertüre an stückt er mit feinen Nähten ein Patchwork gemischter Stile aneinander, das sich zur bunten Harmonie eines von Herzen romantischen Kaleidoskops verbindet. So geraten auf der Bühne und im Graben zwar die Liederleichtigkeit des Singspiels und der barock strenge Choralsatz der „Geharnischten“ (Kwanghun Mun, Thilo Andersson), seria-Leidenschaft und lockeres Parlando, empfindsamer Liebesschwur und fluchende Vergeltungssucht aneinander; am Ende aber ergibt all das und mehr ein Kontinuum vielgesichtiger, immer in sich stimmiger Klassizität.
Von Nummer zu Nummer weiß Hentschel die Stimmen, ihre Timbres und affektiven Potenziale gesondert einzuschätzen. Wenn Minseok Kim als Tamino in Hoody und Sneakers mit den Kräften seines freien, ausgewogenen Tenors nuancierend haushaltet, so rückt das Orchester ihn behutsam ins rechte Gleis und schiebt ihn auch bei leisen Wendungen nicht ins Abseits. Hingegen befeuert Ivo Hentschel die von Sophie-Magdalena Reuter als krasses Comic-Supergirl in scharfem Outfit gezeichnete Pamina. Für den von ihr erwählten Mann will sie gern „Kollegin“ und „Gefährtin“, „Freundin“ und „Frau“ sein, nur keinesfalls sein „Weib“, wie der sonnige Sopran der Künstlerin überlegen postuliert; aber der Dirigent hilft ihr auch kammermusikalisch intensivierend dabei, aus der melancholischen Abgründigkeit ihrer Arie „Ach, ich fühls, es ist verschwunden“ die vielleicht belangvollsten musikalischen Augenblicke der Aufführung zu destillieren.
Sarastros Sauberfrauen
Mit entlasteter Verspieltheit wiederum ist er zwei weiteren Hof-Debütanten dienlich: dem Papageno des jungen Andrii Chakov, der als flitterbunter, flatterhafter Spaßvogel durch sympathische Spielfreude wettmacht, was seinem (noch) ungefügen Bariton an Präsenz mangeln mag; und Henriette Schein: Ihren abgedunkelt schmelzenden Sopran im Ohr, bedauert man, dass Mozart der Papagena nicht weit mehr zu singen gab. Allenthalben vereinen sich verschiedene Stimmen – etwa die der Sauberfrauen Kim, Iwamoto-Ruiter und Tsoungui als Sarastros Putztrupp – zu Ensembles, so einmütig, anmutig, makellos, dass selbst saturierte „Zauberflöten“-Freunde nicht leicht genug davon bekommen.
Was derart anziehend klingt, schaut auch großartig aus. Manche Anblicke ‚flashen‘ einen geradezu wie die Sets eines Science-Fiction-Filmgewitters – vor allem jene, in denen Scheinwerfer nicht bloß Helligkeit und Schatten spenden, sondern reihenweise selbst die Szenerie errichten. So konstruiert Jürgen Burgers strahlend-meisterhaftes Lichtdesign die „heiligen Hallen“ Sarastros als ausgeräumten Tempel mit Säulen aus senkrecht gleißenden Spotlights; und die Königin der Nacht thront auf einer Art Geschütz, gefügt aus glutvollen Batterien großer Lampen. Zentimeter- und momentgenau, sozusagen choreografisch senken sich die Lichtbringer aus dem Schnürboden herab – und entschwinden wieder dorthin.
Auch nach dem Finale (mit dem von Lucia Birzer prima präparierten Chor). Dann steht Pamina unverhofft alleine da, während alle anderen mitsamt Tamino, dem vermeintlichen Ewigkeitsgemahl, nach all dem Isisundosiris-Kokolores und Feuerundwasser-Larifari erlöst und erleichtert den Ort der Handlung verlassen, zum Feiern vielleicht, jedenfalls nach hinten ins Helle. Entgeistert schaut ihnen Pamina nach, zurückgelassen im Dunklen der „schlimmen Hölle Einsamkeit“. Alle Menschen: weg von ihr. Elegant auf einem E-Roller über den Schauplatz kurvend, hat ihr kurz zuvor ein Priester (Thilo Andersson) mit Ivana Sokolas klaren Worten Bescheid gestoßen: „Der Himmel steht nicht für immer offen. Und für alle erst recht nicht.“ Sollte ausgerechnet Pamina, die modernste Frau im Spiel, die sein, vor der er sich verschließt?
■ Informationen über die Produktion und weitere Vorstellungen im Internet: hier lang.