Kontrolliert aufgeregt
Zwei Hauptwerke der Romantik, das eine einst verrissen, das andere in den Himmel gehoben: In Selb beeindrucken die Hofer Symphoniker das Publikum mit Schuberts „Großer C-Dur“-Symphonie und Tschaikowskis Violinkonzert. Als Solistin demonstriert die junge Hawijch Elders Könnerschaft und Reife.
Von Michael Thumser
Selb, 25. November – Man soll als Kritiker nicht über Kritiker lästern. Erst recht nicht, wenn es um Kritikerpäpste geht. So einer war Eduard Hanslick zu seiner Zeit, im neunzehnten Jahrhundert, unangefochten. Bisweilen aber greift selbst der Klügste mal daneben, gern auch kräftig, und dann darf ein Rezensent am anderen auch schon mal laut Anstoß nehmen. Über Wagner etwa, Bruckner oder Mahler konnte Hanslick sich mit ausformulierter Niedertracht aufregen; am heillosesten vielleicht verlor er die Kontrolle über sich, als er nach der Wiener Uraufführung 1881 Pjotr Tschaikowskis Violinkonzert verriss: Dem Werk, heute ein Leib- und Magenstück des klassisch-romantischen Repertoires, keifte er nach, es werde darin „nicht mehr Violine gespielt, sondern Violine gezaust, gerissen, gebläut. Wir sehen lauter wüste, gemeine Gesichter, hören rohe Flüche und riechen Fusel“; namentlich der Finalsatz brachte ihn „zum ersten Mal auf die schauerliche Idee, ob es nicht auch Musikstücke geben könne, die man stinken hört.“ Metaphern sind Glückssache, meistens indes Unglückssache. So in diesem Fall. Doch dazu später.
Denn jubeln lässt sich über Musik genauso wider alle Vernunft, in einer Weise, die kein Halten mehr kennt. Als Robert Schumann die so gut wie verlorene Partitur von Franz Schuberts achter und letzter Symphonie, der „Großen C-Dur“ von 1826, nach Jahren unverhofft entdeckt und, vor Staunen fassungslos, durchgesehen hatte, da zeigte er sich nicht nur überwältigt von der „meisterlichen Technik der Composition“, ihrem Kolorit und Ausdruck; vor allem imaginierte er balsamische „Bilder der Donau, des Stephansturms und fernen Alpengebirgs, zusammengedrängt und mit einem leisen katholischen Weihrauch überzogen“. Sollte es demnach am Donnerstag, als das monumentale Ausnahmewerk in Selbs Rosenthal-Theater erklang, wie in einem Gotteshaus geduftet haben? Um mit Eduard Hanslick zu fragen: Kann Musik riechen?
„Himmlische Länge“
Das denn doch nicht. Ivo Hentschel, der als Musikchef des Theaters Hof die Symphoniker meist unsichtbar im Orchestergraben leitet, nun aber auf der Bühne am Pult agiert, er lenkt das Orchester nicht in ein verzücktes Kopfkino à la Schumann, auch keine aromatischen Bouquets fächelt er durch den Saal; dem einstündigen Werk nähert sich seine durch Plastizität fesselnde Darstellung verstandesgemäß, wenn auch keineswegs prosaisch, nicht manipulativ, gleichwohl anschaulich. Von „himmlischer Länge“ schrieb Schumann – langweilig aber wirds einem bei Hentschel nicht.
Den großen Bögen und inneren Verstrebungen ist dies zu danken, die er bei aller Ausführlichkeit haltbar durch das Geschehen zieht, und gleichzeitig seiner Detailarbeit. Ein Dirigent der graziösen, sogar filigranen Gesten ist er, kein Zappler, aber unentwegt bewegter Feinarbeiter am Augenblick. Die Musikerinnen und Musiker geleitet er im Kopfsatz ebenso gemessen durch die ostentativ-feierliche Hörner-Introduktion wie, das Tempo anziehend, durch die deutlich zügigeren Themen und Durchführungen. Kein Leisetreter, ebenso wenig ein Einpeitscher: Wenn sich das folgende Andante in seiner Mitte vom bisher grundlegenden Marschmetrum abkehrt, verleiht Hentschel gerade diesen zarteren Teilen eine Transparenz, die Schuberts kunstreiche Polyphonie durchhörbar macht. Und auch die Stille ist ihm wichtig: Nach unheilvollen Klangballungen lässt er das Orchester schweigen, eine abgründige Generalpause von ‚höllischer‘ Länge lang.
Heurigenseliger Humor
Walzerartigen Schwung gibt er dem Scherzo mit, zwischen Schroffheit und glattem Gleichlauf balancierend. Zum humoristisch-musikantischen Gestus, den er ihm zurechnet, passen gut die heurigenseligen Weisen des Trios. Forsch beendet er den Satz – um sich in die mehr als tausend Takte des Finales zur stürzen. Der Ausgelassenheit der Streicher, der Launigkeiten der Holzbläser setzen geballte Ladungen schmetternden Blechsounds die Krone auf: eine schier nicht endende Lektion in schallender Unaufhaltsamkeit, gleichbleibend von Basisrhythmen wie von einem Motor angetrieben. So sehr reißt sie Hentschel selber mit, dass er, sichtlich nun vollends in Feuer geraten, sich nun als Enthusiast bekennt.
Jener ekstatische (und vom Publikum reich beklatschte) Symphonieschluss steht am Ende des Abends, so beeindruckend, dass er die Erinnerung an den antagonistischen Programmanfang auszulöschen droht; obwohl der doch, auf seine ganz andere Weise, nicht weniger ans Gemüt gegriffen hat. Da nämlich intonierten die Symphoniker berührend zart die Einleitung in Pjotr Tschaikowskis Violinkonzert, und auch des Weiteren zügelte Ivo Hentschel die Kräfte zunächst zugunsten herzbewegender Empfindungen. „Allegro moderato“, steht über dem Satz: durchaus lebhaft, aber in Grenzen. Nur nichts überstürzen, denkt sich wohl auch die Geigerin Hawijch Elders, die sich schon mit ihren ersten Takten auf den – von Eduard Hanslick so gründlich ignorierten – Fein- und Schönheitssinn des Werks besinnt.
Den Lichtenberger Henri-Marteau-Wettbewerb dieses Jahres entschied die Geigerin im Mai für sich, beim Preisträgerkonzert in Hof brillierte sie mit Niccolò Paganinis erstem Violinkonzert: mit schlichter oder schmachtender Sanglichkeit, imponierendem Elan, spektakulärer Ausdauer beim Sprint über die Gipfel des überhaupt Spielbaren. Wandernde Doppelgriffe, rasende Galopps durch alle Lagen, Oktavpassagen und -sprünge, Flageoletts ... – solche und andere enorme Herausforderungen gibt es bei Tschaikowski zwar auch zuhauf, und die 25-jährige Niederländerin steht nicht an, dabei die Potenziale ihrer unverkrampften Virtuosität zum allgemeinen Staunen des gebannten Publikums einzusetzen. Anders aber als im Stück des Italieners bringt sie neben dem Mumm ebenso viel Mäßigung auf. Repräsentable Leuchtkraft und ehrliches Temperament führt sie wohltrainiert zusammen, ohne physisch an irgendwelche Grenzen zu stoßen, doch auch ohne leeres Blendwerk. Einen Einzelton weiß sie für einen expressiv hinausgezögerten Moment einfach in der Schwebe zu halten, eine seelentiefe Phrase darf sich entfalten, so lange es nötig ist.
Schmelz und Geschmeidigkeit
Kerzengerade steht die junge Frau da, Entschlossenheit in den Zügen. Mit starker Hand greift sie nach Toccata-artigen Brillanz-Passagen, ja, nach einer besonders glanzvoll absolvierten Etappe hebt sie schon mal triumphal den Bogenarm. Nicht weniger aber setzt sie auf gleitende Geschmeidigkeit und Schmelz, und selbst in der hochproblematischen Kadenz stellt sie sich zuallererst die Aufgabe, den Ausdrucks zu vertiefen. Ganz und gar zieht sie sich in der „Canzonetta“, dem von den Holzbläsern mild eingeleiteten Mittelsatz, auf Sehnsucht und schwermütiges Begehren zurück. Zwischendurch, in der belebteren Mitte, klingt Elders’ Geige, als sänge sie eine Arie aus „Eugen Onegin“, und liebevoll wie zum Duett vereint sie sich in der Reprise kurz mit der Klarinette und der Flöte.
In voller Fahrt hingegen wirft sie sich ins „Vivacissimo“ des Finales. Die Tat-, ja Stoßkraft eines Floretts überträgt ihr rechter Arm dem Bogen, faszinierend aber variiert sie auch den mal streichelnden, mal gravierenden Druck auf die Saiten. Zwei Mal kehrt sie sich von dem Treiben, das sie selbst entfesselte, ab, um sich in Ruhe-Episoden ganz nach innen zu wenden. Ratio und Empathie halten in der noch jungen Künstlerin bereits reif die Waage, und noch in Phasen stürmischer Impulsivität bleibt sie, was Eduard Hanslick als Tschaikowski-Kritikaster nicht sein konnte: kontrolliert aufgeregt.
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Im Wandel der Farbe, des Lichts
Reisen zu tönenden „Sehnsuchtsorten“: über Syrien und Spanien nach Hof. Zwischen Hauptwerken des französischen Impressionismus bereitet der Ausnahmeklarinettist Kinan Azmeh dem Publikum der Symphoniker eine westöstliche Überraschung von überwältigender Einmaligkeit.
Von Michael Thumser
Hof, 14. November – Nur weil einer als Genie der Tonkunst gilt, muss man nicht jeden Satz für bare Münze nehmen, den er über sein Metier vermeldet. Zum Beispiel Franz Schuberts berühmtes Diktum, er kenne „keine lustige Musik“: barer Unsinn. Oder Maurice Ravel, der meinte, sein „Bolero“ enthalte „keine Musik“, oder Claude Debussy, der es sich verbat, ein Impressionist genannt zu werden … Dergleichen Schnickschnack darf man ignorieren.
Umso mehr zuzustimmen war hingegen dem Komponisten und Klarinettisten Kinan Azmeh, als er sich am Freitag, beim dritten Hofer Konzert der Symphoniker, dazu bekannte, dass seine Musik „nicht zu trennen“ sei „vom eigenen Leben“. Seines begann in Syrien vor 47 Jahren; für fünf Jahre machte er in New York Station; von Fall zu Fall kehrt er in Deutschland ein … - überhaupt führt er sein Leben als Reise. Aus Harlem, aus Damaskus, aus einem Dorf irgendwo in seiner Heimat berichtet seine konzertante „Suite for Improvisor and Orchestra“. Nach ihren letzten, vehement-virtuosen Takten tobt das Publikum im Festsaal der Freiheitshalle so euphorisch, wie es nach klassischer Musik kaum einmal geschieht: der Sensationsdarbietung eines Ausnahmemusikers angemessen.
Alles schwarz
Kinan Azmeh – das ist keiner aus der Menge. Mit dem charismatischen Selbstbewusstsein eines Nonkonformisten betritt der Individualist den Schauplatz; sogar sein Instrument sieht ungewöhnlich aus: Schwarz ist an dieser Klarinette alles, sogar Klappen und Gestänge. Neben dem Pult von Dirigent Joseph Bastian, doch anders als er ohne Noten, positioniert er sich, in Hemdsärmeln, für eine Musik indes in ausgesuchten Bildern, die alles andere als hemdsärmelig ist. Im Gegenteil. Um, zunächst, aus New Yorks 139th Street zu erzählen, spannt er erst zarteste Töne, Weisen, Arabesken aus einem kaum hörbaren Nichts zu einem weiten Solo aus, bevor er sich von den Bratschen, Celli, Bässen als Atmosphäre- und Farbenmischern sanft tragen und beflügeln lässt; eine Handtrommel misst den Puls. Als Augur des inspirierten Augenblicks erweist sich der „Improvisor“ – Improvisator – Azmeh, als Selbsterfinder und Selbstdeuter aus dem beseelten Moment heraus, als Meister undurchschaubar unregelmäßiger Metren, als Verknüpfer und Zertrümmerer einer unwiderstehlich stimulierenden Rhythmik.
Mal um Mal neu verortet er sein von nahöstlicher Folklore durchtränktes Spiel zwischen zwei Grundparametern lebendigen Musizierens: der Struktur der festen Form hier, den Freiheiten einer entgrenzten Stegreif-Intuition dort. Stets unumstritten bleibt er Hauptakteur, auch in der turbulenten, taumelnden Hochzeit („Wedding“) des letzten Satzes. Da ist sie: die „lustige Musik“ – nicht aber als banaler Spaß und burlesker Übermut, sondern als Herzensergießung schierer Lebens- und Liebesfreude. Das Mittelstück hingegen, in dem die Klarinette, über Streicherteppichen und -pizzicato rhapsodisch den sehnsuchtsvollen Bogen von den USA zurück nach Syrien schlägt, ergreift mit aufgerauhter Leidenschaft durch schöne Schmerzlichkeit. Eine aromatische Träumerei: Geständnis des Heimwehs? Gut möglich.
Magie der Monotonie
Auf Reisen sind die Symphoniker desgleichen in den anderen Beiträgen des Programms, unterwegs zu „Sehnsuchtsorten“, die ihm insgesamt den Titel gaben. Nach Spanien führt Dirigent Bastian sie mit Schöpfungen zweier Meister aus Frankreich, die am Anfang des vergangenen Jahrhunderts dem grassierenden „Hispanismus“ frönten. Mit fremdländischen Düften, schattenhaften Abendaromen schwängern die Musikerinnen und Musiker den Festsaal sattsam. Gleich zu Beginn des Konzerts versuchen sies nach Kräften, im „Prélude de la nuit“, dem magisch monotonen „nächtlichen Vorspiel“, mit dem Maurice Ravels „Rhapsodie espagnole“ anhebt. Vielleicht aber kommt ihnen das Idiom (noch) allzu spanisch vor: Übervorsichtig formulieren sie die vier Sätze, als trauten sie sich nicht recht mit der eigentümlichen Tonsprache heraus. Im letzten, einer rauschenden „Feria“, lassen sie sich dann aber doch auf einen gemäßigten Festrausch ein.
Heftiger entflammen sie später für das Triptychon von Claude Debussys „Iberia“. Von den belebten „Straßen und Wegen“ des ersten Abschnitts weg streifen sie im zweiten durch die „Parfüme der Nacht“, um im dritten neuerlich bei einem „Festtag“ einzukehren. Keine Bekundungen „aus dem eigenen Leben“ Debussys – nur ein Mal hat er Spanien bereist; doch unbedingt ein Werk, das dem Irrtum des Komponisten, er habe mit dem Impressionismus nichts zu tun, Hohn spricht: Als „Malerei“ verstand er selber seine synästhetische Musik, die viele „Variationen der Farbe und des Lichts“ in sich vereint. „Images“, Bilder, heißt der Zyklus, der „Iberia“ enthält.
Kastagnetten-Solist
Daran hält sich der Dirigent. Aus Anspannungen und Verzögerungen spannt Joseph Bastian, am Pult ein Gentleman der geschmackvoll fließenden Bewegung, ein dramaturgisches Netz von unmittelbarer Anschaulichkeit aus. Den Enthusiasmus der Streicher fängt es ebenso sicher wie die Anfeuerungen der Holzbläser, die Hornsignale auf, das Geprassel aus Schlagwerk und Tamburin und die Fragmente einer Elegie des Englischhorns, schließlich, im ausgelassen feiernden Finale, die Derbheiten der Musikantenklarinette und -geige wie die zauberischen Verheißungen aus Harfen, Glocken und Celesta. In all dem lässt Bastian einen hingebungsvollen Kastagnetten-Solisten – unverdient unsichtbar ins linke Off des Podiums verbannt – beharrlich landestypische Klapperrhythmen zelebrieren.
Zu guter Letzt entfesselt sich imposant das volle Werk des Orchesters – nicht anders als in der Apotheose des „Bolero“. Dort aber, in Ravels berühmtester, zugleich scheinbar einfachster Partitur, sammeln, fügen, ballen die Symphoniker den Zusammenklang zuvor erst nach und nach, in achtzehn sich übertrumpfenden Varianten eines einzigen thematischen Kerngedankens. Das soll „keine Musik sein“? Es ist Musik in reinster Manifestation. Denn genial folgerichtig – und wie die erst gut dreißig Jahre später in den USA erfundene minimal music – führt Ravel die Tonkunst auf ihre zwei ursprünglichsten Parameter zurück: auf Wiederholung und Veränderung. Von der Flöte, dann der Klarinette ausgehend, sodann über immer exzentrischere Instrumentenkoppelungen und Mixturen hinweg baut Joseph Bastian immer ekstatischer eine sinnbetörende Magie der Monotonie auf. Wiederum ein Beispiel französischer „Eindruckskunst“, aber ein radikal veräußerlichtes: entfaltet doch der Impressionismus in diesem Sonderfall unmittelbare Körperlichkeit, etwas begehrlich Drängendes, aufgestaut Erotisches – bis die Dämme brechen: Der Höhepunkt des „Bolero“ ist keiner der Lustigkeit, sondern, ziemlich unverhohlen, einer der Lust.
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Reise nach Jerusalem
Schubert und Mendelssohn beim Großen Herbstkonzert in Waldsassen: Andreas Sagstetter, Musikchef der Stiftsbasilika, stellt „katholische“ Kompositionen eines Kirchenskeptikers und eines Protestanten mit klangschöner Eindringlichkeit und plausibler Spiritualität nebeneinander.
Von Michael Thumser
Waldsassen, 8. November – Glaube und Kirche sind nicht selten zweierlei. So trachtete Franz Schubert zwar in nicht weniger als 39 geistlichen Werken danach, seine katholische Frömmigkeit musikalisch auszudrücken, aber in keiner seiner sechs lateinischen Messen brachte ers über sich, den für das „Credo“ maßgeblichen Passus „… et in sanctam catholicam et apostolicam ecclesiam“ – „Ich glaube … an die heilige katholische [soll heißen: allumfassende] und apostolische Kirche“ – zu vertonen. Felix Mendelssohn Bartholdy hingegen arbeitete gefügig der römischen Kirche zu, als er 1846 sein „Lauda Sion“ zum 600. Jubiläum des Fronleichnamsfestes schuf; über das darin verherrlichte Abendmahlsdogma allerdings – das auf der „Realpräsenz“ von Leib und Blut Christi im Brot und Wein der Kommunion beharrt – dachte er als praktizierender Protestant naturgemäß ganz anders.
In Waldsassens vollbesetzter Stiftsbasilika unternahmen am Sonntag Vokalisten und Instrumentalisten zusammen mit dem Publikum eine „Reise nach Jerusalem“, in den Saal der Abschiedsmahlzeit Jesu mit seinen Jüngern; so umschrieb Pfarrer Dr. Thomas Vogl in kurzen, treffenden Begrüßungsworten das spirituelle Anliegen des „Großen Herbstkonzerts“ und verwies gerade angesichts der aktuell ausufernden Schrecken im Heiligen Land auf das Bedürfnis der Gläubigen, „den Frieden zu besingen, zu erbitten und erfahrbar zu machen“. Eben dafür stehen beide Tonsetzer mit beiden Opera: ist doch Jerusalem, sakrales Zentrum sowohl der Juden wie der Moslems, zugleich Keimstätte eines Christentums, das über den Konfessionen steht.
Gemeinsamkeiten und Unterschiede
Den veränderlichen Nachdruck der zwei Partituren weiß Kirchenmusikdirektor Andreas Sagstetter als ungeziert und mit Bedacht agierender Dirigent sinnvoll einzuteilen. Vornehmlich begleitende Aufgaben weist er dem Orchester Czech Virtuosi zu, was ihn nicht davon abhält, einzelne Instrumentengruppen – vor allem das gepflegt intonierende Holz – zu kultivierten Intermezzi herauszufordern. Sein Hauptinteresse aber gilt den vereinten Chören und den teils komplexen Polyfonien und ausladenden Fugen, mit denen sie das Gros der Aufführung bestreiten. Dabei beweisen die Sängerinnen und Sänger der Basilika und des seit Langem mit ihnen verpartnerten Ensembles „Rastislav“ aus dem südmährischen Blansko, wie eingehend sie sich mit den romantischen Gemeinsamkeiten wie den stilistischen Unterschieden zwischen den Kompositionen vertraut gemacht haben.
In vertrauensvollem Kontakt mit dem Dirigenten, ohne Kraftaufwand und Schärfe klar in den Höhen, akkurat bei den zahlreichen Wechseln der Harmonien und Lautstärken, der Stimmung und ihrer Schwankungen, rhythmisch fast immer punktgenau - so lassen sie sich auf Schuberts Es-Dur-Messe (D 950) ein; und verheimlichen nicht, dass es dem Tonsetzer in seinem Todesjahr 1828 nicht um eine landläufige klerikale Jubelfeier zu tun war. Im „Gloria“ beispielsweise geben sie durch sinistre Modulationen und klangfarbliche Verdunkelungen Momenten des Krisen- und Schuldbewusstseins einschüchternd Raum. Beim „Qui tollis“ grollt geradezu Unheil aus den Streichern – bis die Chöre zagend und zärtlich die Erbarmensbitte des „Miserere“ dagegenstellen, um sodann die große Fuge „Cum sancto spiritu“ mit behäbiger Gewichtigkeit – wenngleich ein wenig zu schwunglos – anrollen zu lassen.
Desgleichen verweigern sie dem „Sanctus“ mit seinen zwielichtigen Dur-Moll-Wechseln die Bekundung reiner Freude. Hier haben die Solostimmen Gelegenheit, eindrucksvoll in ausgewogener Gemeinschaft aufzutreten. Neben Manuela Falks mädchenhaft lichtem Sopran versenkt sich Jana Hrochová mit prächtigem Timbre in die umso tieferen Untergründe ihres Alts, gegen den sich Tomáš Černý mit markantem, auch schon mal fordernd hartem Tenor behauptet. (Kurz gesellt sich aus dem Chor Ottmar Andritzky kollegial zu ihm). Mag Schubert auch die unterste Solopartie vergleichsweise stiefmütterlich behandelt haben – David Szendiuch hindert dies nicht, sich im baritonalen wie im Bass-Register gleich präsent zu präsentieren. Abermals vereinen sich die vier Stimmen im abschließenden „Agnus Dei“ – nach vorangegangenen schicksalsschweren, wie mit Posaunen des Jüngsten Gerichts anhebenden, von insistierenden Tönen der Trompete schrill durchschnittenen Anrufungen des Chors. Zusammen mit ihm tritt das Quartett endlich beim Friedensgebet des „Dona nobis pacem“ in einen zuversichtlichen Dialog melodiöser Schlichtheit ein: Alles bisher Bedenkliche, für Augenblicke wiedergekehrt, wandelt sich besiegelnd in die Helligkeit der Hoffnung.
Hörenswerte Rarität
Auch Felix Mendelssohn Bartholdy wollte sich, wie er mehrfach äußerte, an einer lateinischen, „katholischen“ Messe versuchen. Er unterließ es, wäre indes wohl kaum an solchem Großprojekt gescheitert. Dies bezeugt, am Beginn des Konzertnachmittags stehend, seine Kantate „Lauda Sion“, eine Rarität - und eine unbedingt hörenswerte. Auch hier mischen sich Solistinnen und Solisten zusammen beweglich mit reifem Ernst in die ausgesuchte Schönheit des Stücks ein, doch tritt in drei von sieben Sätzen namentlich die Sopranistin Manuela Falk mit hellstimmiger, gleichsam naiver Natürlichkeit hervor.
Zeremoniös eröffnet Andreas Sagstetter mit einem Hymnus der tiefen Bläser die Liturgie, der sodann der Chor, in sich ruhend, Worte verleiht. Dem Schau- und Hörplatz angemessen – immerhin wird in einer Päpstlichen Basilika musiziert –, gelingt den Vokalisten das Bekenntnis zum Dogma der Realpräsenz im fünften Teil besonders plausibel, homofon archaisch über prozessionshaft schreitendem Metrum. Durch den Bitt- und Bußgang des ausgedehnten finalen Abschnitts ziehen der Chor und die Czech Virtuosi, als wärs ein karfreitäglicher Trauermarsch.
Freilich ist mit dem „wahren Brot“, von dem der Text zum Schluss spricht, nicht erst ein „Manna“ des ewigen Jenseits gemeint, sondern durchaus hiesig und heutig eines der diesseitigen „Güter im Land der Lebenden“. Sie, die Sterblichen, sehen sich von den letzten Versen berufen, „Tischgenossen“ Christi zu sein, nicht anders als vor zweitausend Jahren die apostolische Tafelrunde in Jerusalem. Der Friede, den Schuberts Messe an ihrem Ende erfleht, tritt hier schon ein.
■ Die nächsten Konzerte in der Basilika Waldsassen: 2. Dezember, 15.30 Uhr, Adventskonzert mit den Wiener Sängerknaben; 10. Dezember, 16 Uhr, Alpenländisches Weihnachtsoratorium von Hans Berger.
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Der Schlüssel zur Glückseligkeit
Tod – und Verklärung? Die Symphoniker stimmen in Hof, passend zu den aufgewühlten Zeitläuften, Musik über die letzten Dinge an. Vor allem mit Werken von Richard Strauss führt Dirigent Hermann Bäumer das Orchester eindrucksvoll übers Lebensende hinaus zu Ahnungen jenseitigen Friedens.
Von Michael Thumser
Hof, 24. Oktober – „Ist dies etwa der Tod?“, lässt der 84-jährige Richard Strauss die Interpretin des letzten seiner „Vier letzten Lieder“ singen, „wandermüd“, „im Abendrot“. Etwa – und: ein Fragezeichen; denn was und wie er ist, der Tod, kann niemand wissen, der noch lebt. Der keineswegs nur pessimistische Philosoph Arthur Schopenhauer hielt ihn für einen „inspirierenden Genius“: „Schwerlich würde ohne den Tod philosophiert werden.“ Und schwerlich gedichtet, gemalt – komponiert. Ganz ähnlich hatte zuvor schon Wolfgang Amadeus Mozart gedacht: Er, dem beschieden war, sehr jung zu sterben, war mit 31 Jahren doch altersweise genug, um im Tod einen „der besten Freunde des Menschen“ zu erblicken, mehr noch: „den Schlüssel zu unserer wahren Glückseligkeit“.
In Zeiten des Krieges, da in der Ukraine und im Heiligen Land hundertfach gelitten und gestorben wird, eröffneten die Symphoniker ihr zweites Hofer Konzert am Freitag mit Musik über Zeiten des Krieges; genauer: mit mythologischer Musik von Mozart und Strauss über Zeiten, da der Trojanische Krieg gerade vorüber ist. In den beiden Instrumentalstücken aus Opern breitet sich folglich die Freude am Frieden aus, in Mozarts Ballettmusik vom Schluss seiner Oper „Idomeneo“ sogar als Triumph. Nur um einen gewonnenen Krieg kann es sich hier handeln, so kraftvoll, wie das Orchester im Festsaal der Freiheitshalle gleich in den ersten Takten mit der Tür ins Haus fällt, frisch und munter wie der helle Tag. Zwar, auch verhaltenere Passagen naiver Beschaulichkeit schiebt Hermann Bäumer als conductor in residence ein, auch heftigere Reminiszenzen an vergangenes Unheil. Doch einer Stimmung der Dankbarkeit, entronnen zu sein, räumt er entschieden den Vorrang ein und ballt sie zur Strahlkraft eines ungebrochenen Maestoso, das er eine begeistert abschließende Schnellstrecke hindurch ans euphorische Ziel treibt.
Traumphasen
Mit „Divertissement“ ist dies Ballett überschrieben und auch so gemeint: als Zeitvertreib, Unterhaltungsmusik zur Zerstreuung. Weitaus substanzieller und nuancierter hat Richard Strauss in seiner (kaum je aufgeführten) Oper „Die Ägyptische Helena“ die posttrojanische Nachkriegszeit ins Innerliche übertragen, zumindest in der schillernden Orchester-„Fantasie“, die Karl Anton Rickenbacher aus Kernelementen des ersten Akts erarbeitet hat. Nicht nach Art eines ‚kleinen Querschnitts‘ durch das Bühnendrama rollt Hermann Bäumer dies Kondensat aus, schon gar nicht als Vokalmusik ohne Vokalisten; vielmehr entwickelt er daraus eine eigenständige symphonische Dichtung von hohem emotionalem Flair.
Mit beängstigendem Gewaltgetöse beginnt sie, worauf der Solo-Oboist, gleichsam auf den Leibern der Gefallenen, ein trostloses Lamento anstimmt. Bald aber dehnen die Musikerinnen und Musiker den spätestromantischen Vollton – mit zwei Harfen – über eine beeindruckend breite Farbpalette hinweg aus, um in Traumphasen schwelgerischer Ruhe einzumünden. Deutliche Themen bemänteln in subtiler Harmonik die kleinasiatisch-orientalische Handlung mit einem gehobenen österreichischen Idiom, das an Strauss’ „Rosenkavalier“ und seine „Ariadne“ erinnert, wenn auch zu einer Vielfalt gravierender Empfindungen intensiviert. Alle oberflächliche Äußerlichkeit, die zuvor Mozarts Tanz-Stück vorantrieb, nimmt der Dirigent zugunsten einer suggestiven Magie zurück, der zuliebe er in der Schlussepisode jede Übertreibung unterbindet. Wahrlich lyrische Musik gelingt den Symphonikern: ein Ton-Poem.
Flacher Puls, stockender Atem
Dem entspricht, weit treffender als die Lustbarkeit aus dem „Idomeneo“, Mozarts „Maurerische Trauermusik“. Während weniger Minuten der Betrübnis leitet das Orchester mit ihr schwermütig in den zweiten Teil des Konzertabends hinüber, im Gestus still gramgebeugt, gelegentlich scharf in den Klageklängen, doch auch mit Aufhellungen, Erleuchtungen. Mithin vermählen sich schon hier „Tod und Verklärung“ unauflöslich, wie sie es an- und abschließend in der gleichnamigen Tondichtung des 25-jährigen Richard Strauss noch drängender tun. Letzte, peinsame Momente eines endenden Lebens gilt es in jenem chef d’œuvre des Programms zu schildern, aber ebenso den Aufstieg in ein Elysium. Ersterbend flach hält der Dirigent den Puls des Orchesters zunächst, mehr stockend als tief lässt er den imaginierten Sterbenskranken todmatte Atemzüge schöpfen. In Wehmutsweisen mischen die Instrumentalisten lichte Momente schmelzenden Sentiments, umgekehrt senken sie Fiebertraumfetzen und Glückssekunden in Dumpfheit zurück; bis rigorose Klangattacken die Qual der Krampf- und Schmerzanfälle auf die Spitze treiben. Immer weltverlorener aber eröffnen sich, wie in einem Abendrot, phantasmagorische Inseln der Beseligung …
Die heikle Aufgabe, jenseits drohender Abgeschmacktheit in der formidablen Komposition das Gleichgewicht von Panik, Pathos und Apotheose zu halten, löst Bäumer grandios – wofür nach den letzten Takten sowohl das Stillschweigen des Publikums in gefangener Ergriffenheit als auch der dann jubelnd ausbrechende Beifall spricht –; schlüssig hat Bäumer die orchestralen Massen komprimiert und ebenso verstanden, sie in aller Wucht und Verve transparent zu halten. So lang es irgend geht, erlaubt er dem dünnen Lebensfaden nicht, zu reißen; der überdauert, aller Schwäche ungeachtet, zumal in konstanten Tiefen von Bässen und Blech, Harfen, Gong, bis er sich endlich befreien darf. Dann löst das Orchester die Verstrickung von Not und Tod und Hoffnung in einen Hymnus an das Leben auf, ans Licht: Vielleicht scheint die Sonne des Friedens in einer posttraumatischen Nachkriegszeit über den Kampfgebieten irgendwann wieder; vielleicht scheint sie im Jenseits ja auch.
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Bloß keine Kinkerlitzchen
Das Atrium-Quintett kombiniert in Hof Bläsermusik der klassizistischen Romantik und klassischen Moderne. Technisch extrem herausgefordert, brillieren die fünf Mitglieder der Symphoniker mit Klangkultur und -farbigkeit und einer imponierenden Gleichzeitigkeit des Zusammenspiels.
Von Michael Thumser
Hof, 20. Oktober – Wo die großen Persönlichkeiten die Richtung weisen, bleiben für manch andere, nachrangige, oft nur Nebenwege. Gleichwohl sollte man, was ihnen dort gelingt, nicht für Bagatellen halten. So musste Anton Reicha zwar erleben, dass sein gleichaltriger Jugendfreund Ludwig van Beethoven ihn als Tonsetzer um Längen überholte; dennoch schrieb der Böhme, gelernter Flötist, sich nicht nur mit etwa hundert Kammermusiken geistreich in die Kulturgeschichte ein, sondern vor allem – 1817 in Paris – mit der Erfindung des Bläserquintetts, einer Gattung, der er selbst 24 Werke beisteuerte. Was hätte für das Atrium-Quintett näher liegen können, als sein Konzert in der Hofer Klangmanufaktur mit einer Schöpfung Reichas zu eröffnen?
Das Atrium, nach dem das 2005 gegründete Ensemble aus Mitgliedern der Hofer Symphoniker sich benennt, ist ein nach den Seiten und nach oben offener Raum im Zentrum einstöckiger Gebäude – mithin ein von allen Seiten zugänglicher Bereich, geschaffen für den Blick hinauf zu Sonne, Mond und Himmel. Wirklich treffen sich solcherart eine Flötistin und vier männlichen Kollegen auf halber Strecke, indem sie gleichrangig ihr je Eigenes einbringen, ohne einander in die Begleiterrolle abzudrängen oder ein exponiertes Solo zu missgönnen.
Humoristisch brummig gibt in Anton Reichas Quintett opus 88/2 das Fagott Tonko Huljevs das Thema für den Kopfsatz vor, den in der Folge der Klarinettist Thomas Faltlhauser und Alan Korck mit dem Horn, sodann Birgitta Kurbjuhns Flöte und die Oboe Pawel Kondakows mit kultivierten Duetten bereichern. Eher sprudelnd als tänzerisch das Menuett; danach, im „graziösen“ Andante, tritt der Oboist aus der Gruppe mit einem Kantabile heraus, das Alan Korcks Horn mit sanfter Salbung übernimmt. Mit Jagdmotiven führen die fünf das gutgelaunte Werk an ein volkstümliches Ende. Es zeigt sich: Die Musik eines spätklassischen „Kleinmeisters“ muss keine Lappalie sein.
Wohlerwogene Störtöne
Reizvolle Gemeinsamkeiten sowohl wie aufschlussreiche Widersprüche zu dieser Komposition offenbaren die Künstlerin und ihre vier Gefährten im g-Moll-Werk (opus 56/2) aus Franz Danzis insgesamt neun Arbeiten der Gattung. Einerseits widmen sie sich auch hier gewissenhaft einer filigranen Kontrapunktik und finden sich sozusagen Schulter an Schulter neuerlich harmonisch durch die „durchbrochene Arbeit“ der Partitur, indem sie Themen und Motive zwischen ihren Instrumenten hin und her wandern und wechseln lassen. Andererseits legen sie bei Spieltechnik und -tempo ordentlich zu und stimmen sich gleich im behänden Anfangs-Allegretto in geistvoll changierende Moll-Dur-Wechsel ein. Gegen die beständige Unaufgeregtheit im romantisch modulierenden Andante erheben sie im folgenden Menuett mit Vehemenz – und wohlerwogenen Störtönen aus der Klarinette – Protest, den sie im Schluss-Allegretto noch steigern. Da ist Virtuosität gefragt.
Dergleichen ist wahrlich kein Kinkerlitzchen, Klein- und Kleckerkram. Auch György Ligeti kann die Betitelung von sechs scheinbar launig-nichtigen Bläser-Miniaturen als „Bagatellen“ nur ironisch gemeint haben. Dass die Piècen aus dem Jahr 1953 sich einem strikten Willen zur Reduktion verdanken, verführt die Hofer Interpreten nicht dazu, in Klangfülle und Tonpräsenz nachzulassen. Halb schnippisch, halb aufgeregt greifen sie nach dem ersten der Stücke. Kummervoll und deutlich dissonant klagt das zweite, ein Lamentoso, das sie unter den Druck schmerzend greller Akzente setzen. Ganz tonal hingegen die Nummer drei, eine Art minimal music mit ostinaten Figuren, von den Instrumentalisten untereinander weitergereicht. Vorschriftsmäßig ruvido, grob, zerreißen sie das metrisch-rhythmisch widerborstige Presto. Dann lassen die fünf aus folkloristischem Melos die Geheimnisse einer düsteren Rhapsodie erwachsen, die Ligeti dem Gedenken an Béla Bartók widmete; bis sie, tonsprachlich nun näher bei Dmitri Schostakowitsch, den Zyklus mit dem Tumult eines grotesken Spaßes beschließen. So augenzwinkernd lässt sich in einen Himmel blinzeln, an dem der Mond nicht viel weniger hell scheint als die Sonne.
„Wie ein Sinnenrausch“
Ähnlich verstehen sie den Spieltrieb, der den Franzosen Jean Françaix wie „ein Sinnenrausch“ beim Komponieren überkam. Sein zweites Quintett, 1987 uraufgeführt, nennt Alan Korck „das Hauptwerk“ des Hofer Programms, an dessen Schluss es mitreißend effektvoll steht. Der zweite der fünf Sätze – nach dem wiegend-schiebenden Gleichmaß des Auftakts – fordert als Kollektiv-Etüde die Fertigkeiten der Musizierenden restlos heraus, ein perpetuum mobile, das sie mit staunenswerter Synchronizität am unstet-überstürzten Laufen halten. Mit scherzando, tändelnd witzig, überschrieb Françaix den dritten Satz – freilich könnte die Vorschrift über dem ganzen vollreifen Alterswerk stehen: Der vermeintlich regellosen Vielgestalt seiner Sätze stellt sich das Ensemble mit wacher Übersicht, genauer Kenntnis der polyphonen Verstrickungen und Klarheit in der vielfarbig durch mancherlei Tonarten vagabundierenden Chromatik. Im vierten Satz vertauscht Pavel Kondakov die Oboe mit dem Englischhorn; der Ton der schwelgerischen Schalmeienweise, die er damit melodieführend anstimmt, lässt an die leicht rauchige Melancholie eines Saxofons denken. Mit einem Baritonsolo revanchieren sich Alan Korck und sein Horn im Schlusssatz, der in seiner zwitschernden Flatterhaftigkeit so flink gerät, dass über den Noten nicht einfach Allegro, sondern superlativisch Allegrissimo steht.
Hier wie während des ganzen Abends bekennt sich das Atrium-Quintett zu einer Musik der Eleganz und Leichtigkeit, die sich von allzu ausdrücklichem Tiefsinn zwar abkehrt, ohne sich jedoch in der Gediegenheit ihrer Machart Schwächen zu erlauben. Jeder Beitrag des Abends und ebenso die Interpreten dürfen Feinsinn und Ausdruck für sich reklamieren, Stil- und Formgefühl, Geschmack. Letzterer sei „die Kunst, sich auf Kleinigkeiten zu verstehen“, hat Françaix’ Landsmann Jean-Jacques Rousseau gesagt. Er wusste, wovon er sprach: Der große Denker hat auch komponiert und war, nebenbei, Flötist.
■ Nächstes Kammerkonzert der Hofer Symphoniker: 17. November, Hof, Klangmanufaktur (Kulmbacher Straße 1), 19.30 Uhr, „Faszination Horn“. Informationen im Internet: hier lang.
■ Das Atrium-Quintett im Internet: hier lang.
Balu hat den Bogen raus
Wundersame Vermehrung: Die „projects4cellos“, entstanden aus den „Vier Evangcellisten“, sitzen in Selb auch schon mal zehn- bis elfköpfig auf der Bühne des Rosenthal-Theaters. Beim „Release-Konzert“ für die neue Einspielung der Truppe macht sich die versprochene CD „Verismo“ hingegen rar.
Von Michael Thumser
Selb, 6. Oktober – Zu viert haben sie fünfzehn Jahre auf dem Buckel, immerhin. Im Oktober 2008 schlossen sich die Weimarer Hochschulabsolventen Markus Jung und Mathias Beyer, Lukas Dihle und Hanno Riehmann als „Die vier Evangcellisten“ zusammen, unterm gleichsam biblischen Ensemblenamen, weil jeder von ihnen mehr oder weniger so heißt wie einer der neutestamentlichen Evangelisten. Inzwischen sind sie auch als „projects4cellos“ unterwegs – wobei die 4 in der Mitte sich zwar einerseits gleichfalls auf die Besetzungsstärke des Ursprungsquartetts bezieht (four), andererseits aber, wie so oft, als das englische for gelesen werden kann: Projekte für Cellos bringen die Herren seit anderthalb Jahrzehnten auf den Weg, wobei sie sich gelegentlich gern mit anderen Musikern verbinden und sich dann in puncto Ensemblegröße kaum Zwänge auferlegen.
Fünfzehn Jahre: Als offizieller Zeitraum für ein Jubiläum gilt die Frist zwar nicht. Aber die „Evangcellisten“ nutzen trotzdem die Gelegenheit zum Feiern: Die Spielzeiteröffnung in Selb bestritten sie mit einem „Release-Konzert“ für ihre neue CD „Verismo“, und nicht nur ein an gepflegt-unalltäglicher Kammermusik interessiertes Publikum war ins Rosenthal-Theater eingeladen (wo es lebhaft applaudierte), sondern ebenso eine nicht geringe Schar von Mitstreitern. Fünf Kollegen bringen die vier mit, die einzuspringen pflegen, wenn unter ihnen am Mann ist: Nassib Ahmadieh und Sebastian Chong, Alexey Shestiperov von den Hofer Symphonikern, Alexandre Castro-Balbi und Florian Bischof; dazu „als Gast“ Ariel Barnes. Mithin dürfen sich die Akteure den Luxus leisten, auch schon mal zu zehnt in langer, sacht geschwungener Reihe auf der Bühne Platz zu nehmen. Naturgemäß erinnert das dann an die berühmten „12 Cellisten der Berliner Philharmoniker“. Bei denen wirken allerdings zwei Damen mit; anders die „projects4cellos“: Standhaft eingeschlechtlich figurieren sie als reine Männerrunde.
Vom Falsett zum Kontrabass
Ansonsten aber folgen sie wichtigen Tugenden des vorbildhaften metropolitanen Spitzenensembles. Monoton tenoralen Gleichklang ihrer Instrumente vermeiden sie, indem sie ihr Registerspektrum von Falsett-nahen Höhen bis in fast Kontrabass-tiefe Untergründe ausbreiten. Fließend wechseln sie einander in der Stimmführung ab. Vom satt-sonoren Ton, der sich geübtem Bogenstrich verdankt, wechseln sie postwendend zu schnippisch-plauderhaften Pizzicato-Piècen (von Markus Jungs Vater Fredo, Johann Strauß Sohn und, in der Zugabe, Udo Hartlmaier). Und ihr Repertoire – das neben einigen Originalkompositionen vornehmlich aus Arrangements von eigener und fremder Hand besteht – reicht von Swing und Tango über Grandseigneur-haft schmachtende Operettenmelodien und süffiges Opernarien-Sentiment (in Selb von Giacomo Puccini) bis zur Bearbeitung altehrwürdigen Liedguts: Mit Franz Schuberts „An die Musik“ statten sie gleich zu Anfang der „holden [Ton-]Kunst“ ihre Huldigung ab.
„Wahnsinnig gut“, sagt Markus Jung als Moderator, eigne sich das Cello „für Schicksalsschläge“. Gern glaubt mans, wenn acht Streicher das „Requiem“ des Böhmen David Popper anstimmen: schmerzlich schön, fast leidverliebt. Umso temperamentvoller geraten ihnen zwei Sätze aus Heitor Villa-Lobos’ erster „Bachiana Brasileira“: rhythmisch ungeduldig das „Preludio“, fiebernd feurig, phasenweise humoristisch; doch die folgende „Introdução“ klagt wiederum, teils tragisch, teils mimosenhaft.
Für Richard Gallianos „Opale Concerto“ tritt der Hofer Ausnahme-Akkordeonist Harald Oeler ins Zentrum der Streicher: Heftig, geradezu unwirsch rückt er den aufregenden dritten Satz des Werks nah an das Idiom Astor Piazzollas heran, durch resolute Resignation und mondäne Melancholie. Mit souveräner Saxofon-Coolness postiert sich Christopher von Mammen an der Rampe und verwandelt, gemeinsam mit dem nicht minder lässig-überlegenen Harry Tröger am Schlagzeug, Paul Desmonds Jazz-Standard „Take Five“ improvisierend zu einem weiteren top act des Programms. Zehn Cellisten und der Drummer (Markus Jung: „So viele waren wir noch nie“) „probieren“ es schließlich „mit Gemütlichkeit“, nicht freilich wie im Disney-„Dschungelbuch“ Balu der Bär bedächtig und in Seelenruhe, sondern wie es sich gehört: frech, munter und agil.
Um über die verheißene CD „Verismo“ die „Wahrheit“ zu berichten: Sie trat an diesem Abend erst ziemlich spät und darum für das Gros der Besucher gar nicht in Erscheinung.
■ Das Ensemble im Internet: hier lang.
■ Für das kommende Jahr planen die „Vier Evangcellisten“ eine weitere Ausgabe der traditionsreichen „Hofer Cellotage“.
Die zarte Pflanze Hoffnung
Zum Saisonsauftakt der Symphoniker bekommen es die Zuhörenden in Hof mit mitreißenden Frauen zu tun: Tianyi Lu brilliert als präzise Dirigentin, Harriet Krijgh lässt ihr Cello wie in der Oper singen und agieren, und die Komponistin Anne Clyne schildert eine monströse Mitternacht.
Von Michael Thumser
Hof, 3. Oktober – Was ist Musik? Schwer zu sagen. Jeder Mensch erkennt sie, wenn sie ihm begegnet, aber zu definieren vermag er oder sie den Begriff darum noch lange nicht. In etlichen einschlägigen Fachlexika, sogar in solchen von Renommee, fehlt das Stichwort völlig. Warum sich also nicht auf die Dichter verlassen – etwa auf den Spanier Juan Ramón Jiménez. In einem Kürzest-Gedicht beschrieb der Nobelpreisträger von 1956 la musica als „mujer desnuda, corriendo loca por la noche pural“, als eine nackte Frau, rennend durch die tiefe Nacht.
Gleich drei außerordentliche Frauen, bekleidete natürlich, exponierten die Symphoniker, als sie am Freitag ihre neue Spielzeit eröffneten. In rot-rauschender Galarobe trat die 32-jährige Harriet Krijgh mit ihrem Cello als Solistin aufs Podium; zum Taktstock griff die um nur ein Jahr ältere Tianyi Lu, eine in China geborene Neuseeländerin, zierlich und zackig; und den programmatischen Auftakt machte eine Londonerin, die in New York lebt: Anna Clyne (Jahrgang 1980). Sie ließ sich von den zitierten knappen Versen Jimenez’ 2015 zu einer grandiosen Tondichtung inspirieren, die im Festsaal der Freiheitshalle als schwarzes Nocturne erklang, im Vollton einer Besetzung wie für eine Tschaikowsky-Symphonie, schwergewichtig, doch nicht schwer verständlich: „This Midnight Hour“.
Flucht durch die Dunkelheit
Nicht etwa mit den zwölf obskuren Glockenschlägen einer Geisterstunde beginnt diese Mitternacht. Stattdessen brechen die Symphoniker mit stürmischem Forte schlagartig zu einer schaurig-schönen Flucht durch die Dunkelheit los; indes durch eine Dunkelheit, die unter Tianyi Lus Anleitung in vielen Farben schillert. Nicht allein die Pauke pocht, die Kontrabässe tun perkussiv desgleichen. Zwischen unheilvoll dräuende Pulse fügt die Dirigentin Schichten sinistrer Ruhe oder sogar stille Zwischenräume ein, Spalten in der Dramaturgie, Pausen der Unergründlichkeit. Warnrufe wie aus Sirenen weichen übersinnlichen Hochtönen oder den barocken Dur-Schlüssen eines täuschend stoischen Chorals.
Aus den scharfkantig abgebrochenen Fragmenten entfesselter Energien schieben die Bratschistinnen und Bratschen, wie mit verstimmten Instrumenten, die schwermütig-schrägen Reste eines französischen Musettewalzers ein. Denn die Komponistin hat auch ihren Charles Baudelaire gelesenen (die „Blumen des Bösen“ und darin das Gedicht „Abendklänge“): „Die Geige bebt, ein Herz klagt aus den Saiten, / Schwermütiger Walzer, zärtlich sanftes Gleiten“ … Schließlich postieren sich zwei Trompeter auf dem Podium hinten links und rechts, um mit begütigenden Signalen überraschend träumerische Schlusswendungen einzuleiten; die dann doch mit einem letzten Tutti-Schlag totgeschossen werden.
Schicksalsdramatik
Das deutet schon mal voraus auf das zweite reine Orchesterwerk des Abends, auf die vierte Symphonie Pjotr Iljitsch Tschaikowskis, die er nicht weniger strikt mit Schicksalsdramatik aufgeladen hat. Zu Frauen, nackten jedenfalls, fühlte sich der Tonsetzer nicht hingezogen: Schwer litt er an seiner Homosexualität und stürzte sich darum im Entstehungsjahr der f-Moll-Komposition, 1877, in eine absurde Ehe und einen Suizidversuch: „Ein Herz klagt aus den Saiten …“ Mit dem Titel „Fatum“ sieht man die Vierte gelegentlich versehen, und so hängen denn auch die Hofer Musikerinnen und Musiker das dadurch insinuierte Verhängnis wie ein Damoklesschwert hörbar über den Zyklus, als wärens die Posaunen des Jüngsten Gerichts: Mit der leitmotivischen Anfangsfanfare verleihen sie der Symphonie insgesamt einen katastrophischen Grundzug, dem Kopfsatz zuallererst.
In der Zerrissenheit seiner Rhythmik spiegelt sich die Zerrissenheit von Tschaikowskys Gemüt. Ein Tumult, obgleich geordnet: Aufgewühlt, wenn nicht ungemütlich fügen sich die Stimmungen aneinander, oft als Verzweiflung hervorbrechend trotz vereinzelter Gebärden des Triumphs. Moderato con anima schrieb der Komponist über den Satz, und die Dirigentin befolgt die Vorschrift, indem sie dessen unglückliche Friedlosigkeit in gemäßigtem Tempo und „mit seelenvollem Ausdruck“ verbreitet. Bei aller Deutlichkeit ihrer Gebärden feuert sie das Orchester nicht einpeitschend an, sondern motiviert es ökonomisch, weil sie seinen Kräftehaushalt, seine packenden, pathetischen, seine poetischen Potenziale präzis erkennt. Letztere entfalten sich im Andantino, wo der eingangs räsonierenden Oboe alsbald die Celli, dann das Tutti mildernd widerspricht. Zu einer gewissen Festlichkeit steigert Tianyi Lu den Gestus, behält aber die Haltung einer vitalen Skepsis bei, von der sie und das Orchester sich vollständig – und überaus reizvoll – nur in den spielerisch-heimlichen Trippeleien des Scherzos lösen. Im Finale entfalten sie Getöse im Übermaß, als wollten sie mit Scheppern, Rasseln und Radau das Glück erzwingen, am Schicksal und seiner wiederkehrenden „fatalen“ Fanfare vorbei.
„Zärtlich sanftes Gleiten“
Das Publikum im vollbesetzten Saal feiert die Musikerinnen und Musiker, auch und erst recht die leutselig lächelnde Dirigentin frenetisch; und nicht weniger die Niederländerin Harriet Krijgh, der das mit „Schicksalsfragen“ betitelte Programm kaum zwanzig Minuten Zeit gewährt, ihre tiefe Musikalität und hohe Bravour zu erweisen. Was ist Musik? Camille Saint-Saëns definierte sie ganz richtig als „die Kunst, Klänge simultan als Harmonie oder sukzessiv als Melodie zu kombinieren“. Treffende Worte, wenn auch arg nüchterne. So kalt, zum Glück, gerät das erste Cellokonzert des Romantikers aus Frankreich in Hof denn doch nicht.
Im Gegenteil. Die Bewegtheit und Erregung, wie sie die Werkfolge des Eröffnungskonzerts überhaupt durchzieht – auch hier ist sie zu spüren, schon im allerersten Augenblick. Dem nämlich verpasst das Orchester einen Tutti-Schlag etwa von der Art, mit dem es der zarten Pflanze Hoffnung in Anna Clynes Nachtstück den Garaus gemacht hat. Sogleich danach stürzt sich die Solistin in eine erhitzt-rhapsodische Erzählung, in die sie durch Klagemotive die Diktion einer impulsiven Beichte oder Leidensgeschichte überträgt. Dazu passt der extrem leibhaftige, gelegentlich beinah rabiate Ton der Künstlerin (auch wenn er ihr erst in der zugegebenen Bach-Sarabande lückenlos perfekt gelingt). Hingebungsvoll auf dem Stuhl sich wiegend, lockt sie aus den Saiten ein grammfein schwebendes Pianissimo – „zärtlich sanftes Gleiten“, auch hier –; lang ausgehaltene Töne lässt sie dafür üppig blühen. Eindringlich gelingt ihr das Spiel in tiefen Lagen, wo der Klang ihres Instruments sich mit der Noblesse eines edlen Charakterbasses adelt.
Tempo und Brillanz
An anderer Stelle legt Harriet Krijgh über zarte, hohe Figurationen der rücksichtsvollen, obendrein gedämpften Streicher einen vorsichtig-zärtlichen Saiten-Gesang. Aber die Durchschlagskraft, die in dem Werk so gut wie in ihr selber steckt, verhehlt sie in keinem Augenblick. Das Lyrische stellt sie hinter die Leidenschaft zurück und führt, im Verein mit dem symphonisch nuanciert agierenden Orchester, ihre Virtuosität temporeich und brillant zum guten Schluss.
Wer ihn, diesen Schluss, und den der Tschaikowsky-Symphonie mit dem Anfang vergleicht, der versteht: So rundet sich plausibel ein Abend elementarer Kraftentfaltungen, nicht ohrenbetäubend, doch schallend, eindringlich und dauerhaft. In Fällen wie diesem halten sich die Zuhörenden am besten an den hochmusikalischen Humoristen Heinz Erhardt, der ganz ernsthaft empfahl: Wenn solche Stücke „dich umbrausen / mit Getön, / dann genieße auch die Pausen: / sie sind schön“.
■ Die zitierten Verse aus Charles Baudelaires „Harmonie du Soir“ übersetzte Terese Robinson.
■ Die Hofer Symphoniker im Internet: hier lang.