Eckpunkte-Archiv 2023/24
No sports?
29. November Nicht, dass immer Schweiß in Strömen fließen müsste. Doch hängen wir leicht der Meinung an, Sport sollte seinen Namen nur dann verdienen, wenn er den Einsatz von Körperkräften fordert. Die Zweckfreiheit des Spiels schätzen wir an ihm, räumen aber zugleich ein, dass erst das Ziel, in einem Wettkampf zu siegen, vollends zur Energie-Entfaltung motiviert. Mithin ist Sport keineswegs immer Spaß: Nicht wenige schinden sich un- bis übermenschlich, um ihre Leiber an die Grenzen zu führen und, wenns geht, darüber hinaus. Beträchtlich wirkt der Geist mit: Dass etwa Triumphe im Tennis „zu achtzig Prozent im Kopf“ errungen werden, versichern uns die Champions des „weißen Sports“. Uns durchschnittlich Ambitionierten schien hingegen physische Bewegung im Raum Hauptmerkmal und -sache jedes Sports zu sein. Doch denken wir da wohl zu kurz. Bei der ISPO, der weltweit größten Branchenschau, die am Dienstag in München für drei Tage ihre Tore öffnete, nehmen einen unübersehbaren Platz auch die „eSports“ ein: Computerspiele, vor Publikum von Gamern wettkampfmäßig ausgetragen, wobei sie für gewöhnlich eher unbewegt an Rechnern sitzen. Neu ist dergleichen nicht: Seit je gilt Schach als Sport, des Umstands ungeachtet, dass die Meister hier erst recht regloser am Spielbrett verharren. Gleichwohl wird über Großturniere im Sportteil der Zeitungen, aus den Sportstudios von Fernsehen und Rundfunk berichtet. Denk-Sport: Nichts, so heißt es, fordert das Hirnschmalz unerbittlicher heraus als dieses „Spiel der Könige“. Seit genau zweihundert Jahren wird es im sachsen-anhaltischen Ströbeck bei Halberstadt sogar im Schulunterricht gelehrt und benotet, so wie die „Leibeserziehung“ auch, wenngleich die heute Schulsport heißt. Wenn indes die Ertüchtigung des kombinierenden Verstands derart gewürdigt wird – sollte dann nicht beispielsweise auch die Mathematik, so wie sie über höhere Klassen hereinbricht, als Sport gelten, ebenso die dort gelehrte komplexe Mikrobiologie der Vererbung oder die teils verhängnisvollen Schwierigkeiten, wie sie die französische Sprache oder die unregelmäßigen lateinischen Verben bereiten können? Wer schon einmal verzweifelnd vor einem extraschwierigen Sudoku saß, weiß, wie durchtrainiert ein Denkvermögen sein muss, um es auszuknobeln; nicht viel anders führt so mancher Leitartikel, das eine oder andere Feuilleton in der Süddeutschen oder FAZ unsere rauchenden Schädel über ihre Grenzen hinaus, bis der Schweiß ausbricht. Sind die visionären Manager der Weltkonzerne in Wahrheit Leistungssportler? Darf sich der Verfasser einer Kolumne wie dieser wenigstens mit einem Fünftausend-Meter-Läufer vergleichen? Wer von uns sich gern und ernstlich dicke, anspruchsvolle Bücher vornimmt, weiß gut genug, wie gründlich er seine mentale Konstitution getrimmt haben sollte, bis er sich – im Lesesessel wie angewurzelt – fit genug fühlt für die Bergetappen auf Gipfel der Weltliteratur wie den „Ulysses“ von James Joyce und Robert Musils „Mann ohne Eigenschaften“, Thomas Manns „Joseph und seine Brüder“ oder Marcel Prousts „Recherche". Für Schach bleibt da nicht viel Zeit und Hirn. Dennoch sollen solche Mühen „no sports“ gewesen sein? Immerhin verbraucht unser Zerebrum, das im Körper gerade mal zwei Prozent seines Gewichts ausmacht, stolze zwanzig Prozent der Energie. ■
Alles, bloß das nicht
25. November Nicht leicht lässt sich der Faktor Zeit mit unserem Menschenleben vereinbaren. Alt werden, sagt die Redensart, wollen alle, alt sein mag niemand. Manch einer kommt uns so vor, als wär er niemals jung gewesen; andere bewahren sich noch als Erwachsene ein Stück unbeschwerter Adoleszenz; wieder andere fallen, nach reifen Jahren, am Lebensabend in eine Art Kindheit zurück. Seit unsere Spezies ihr Privileg nutzt, als einzige unter den Tieren über den Tod nachdenken zu können, sehnen sich viele bedenkenlos nach Unsterblichkeit, und der morgige Totensonntag bietet einen geeigneten Termin dafür: ein Tag zwischen morbidem Spätherbst und hoffnungsfrohem Advent. In einer der jüngsten Ausgaben berichtete die Wochenzeitung Die Zeit von aktuellen Forschungen der internationalen „Anti-Aging-Industrie“, eines „rasant aufblühenden Sektors der Pharmabranche“, die das Ziel verfolgt, „die Alterung unserer Organe zu kontrollieren“ und, „quasi als Nebeneffekt“, die durchschnittliche Lebenserwartung auf 120, 150, vielleicht gar 200 Jahre zu erhöhen. Freilich ließe der zweifelhafte Erfolg solchen Ehrgeizes die Weltbevölkerung bis zum Jahr 2050 statt auf die ohnehin erwarteten zehn auf 25 Milliarden anwachsen, ganz zu schweigen von den seelischen Folgen für die Psyche, von „all den Verletzungen und Verlusten, die sich ansammeln würden“: „Wären die zu ertragen?“, fragt die Zeit. Unsterblichkeit? Alles, bloß das nicht. In Wahrheit setzt das Streben, sie zu erreichen, nicht den Sieg über das – im Grunde gleichgültige – Alter, sondern über den Verfall voraus. Indem die Ägypter ihre Leichen als Mumien einbalsamierten, glaubten sie sogar, mit dem Körper auch den Geist für immer zu bewahren. Und wirklich: „Die Mumie lebt“, im Kino und im Fernsehen. Dort verbreitet sie, mit tricktechnischen Grausigkeiten sehenswert hochgerüstet, viel Verderben und hat allerlei weitere Zombies und Untote im Schlepptau. An alternde Schönheitsköniginnen gemahnt dies, die unter Schichten von Kosmetik aussichtslos ihre ewige Jugend behaupten. Seit der Antike trachten Kriegsherren danach, sich durch sogenannte Heldentaten und Triumphe im Feld unauslöschlich ins Buch der Geschichte einzuschreiben. Auf ähnliche Erfolge mit friedlichen Mitteln hofften die Künstler. Jetzt mag das anders sein: In keiner Epoche war sich die Welt ihrer Endlichkeit derart bewusst wie in unserer Gegenwart. Weit mehr als von Naturkatastrophen haben wir uns durch selbst verschuldetes Unheil, durch Kriege, Massenmord, Terror, Klimawandel dazu drängen lassen, unseren Begriff von Zukunft auf ein paar Jahrzehnte zu verkürzen. So genügt den Breitenmedien heutzutage alle paar Wochen ein Sensationstor, um einen Starfußballer als „unsterblich“ auszurufen. Dabei vergeht der Ruhm noch gründlicher und schneller als das Leben. Zwar, „dem Glücklichen schlägt keine Stunde“, dichtete Friedrich Schiller, aber ebenso: „Auch das Schöne muss sterben.“ Streben – sterben: Um unserem Sinnen und Trachten den Garaus zu machen, müssen nur zwei Buchstaben die Plätze tauschen. Die letzte Stunde schlägt noch den Glücklichsten unter uns, den unverbesserlichen Optimisten. Und so gehört es sich. Bei aller Schönheit von Welt und Leben: Macht, dass wir das Schlimme in beidem nicht ewig ertragen müssen, uns nicht auch Mut? Der tröstlichste Glaube, dem der Mensch anhängen kann, ist der an Auferstehung, der unmenschlichste der Glaube an Wiedergeburt. ■
Haken und Ösen
11. November Zeige mir, wie du schreibst, und ich sage dir, wie du bist: zum Beispiel „opportunistisch, faul und verschlagen“, weil deine Kritzeleien mit ihren flachen m und n als fade „Fadenschrift“ durch alle positiven Raster fallen. Sofern sich die Buchstaben nach links neigen, sollten wir uns bei dir vor „Selbstbezogenheit“ und „Narzissmus“ hüten. Tendieren sie indes nach rechts, freuen wir uns über deine „ungezwungene Kontaktfreude“ und „Warmherzigkeit“. Sollten aus deinem Bleistift, Kugelschreiber oder Federhalter jedoch senkrechte Zeichen fließen, so wissen wir dich als „besonnen und nüchtern“ zu schätzen, wenn wir dich auch als Langweiler verschmähen … So einfach können Psychologie und Menschenkenntnis werden, wenn wir uns auf die Grafologie verlassen, auf die suspekte „Wissenschaft“ also, die behauptet, Wesenszüge aus einer Handschrift herauszulesen, um sodann die Schreiberin, den Schreiber handsam in einer Schublade zu verstauen. Die zitierten forschen Zuordnungen verdanken sich einer „Karriere-Bibel“ im Internet, die uns leider verschweigt, was die „Sütterlin“ über Geistesverfassung und Gemütslage ihrer Benutzer verrät – unserer Urgroß- und Großväter und -mütter also. Ihnen wurde jene spezifisch deutsche Schreibschrift mancherorts ab 1914, spätestens von 1924 an in allen deutschen Schulen verbindlich beigebracht. Mal geben sich die Zeilen der Altvorderen dornig, spitz und stachelig, mal überraschen sie durch Schleifen, Bögen Rundungen. Wenn wir genau hinsehen, erkennen wir etliche Buchstaben, die sich nur durch ein Häkchen hier, eine Öse dort voneinander unterscheiden. Darum vermögen sogar Schriftkundige manche Wörter nur schwer und nur aus dem Kontext zu erschließen. Folglich drohen Briefbotschaften, Tagebuchaufzeichnungen, Kochrezepte aus den Manuskriptschätzen von Oma und Opa verloren zu gehen. Um dem entgegenzuwirken, wollen uns etliche Informationsquellen im world wide web, erst recht, im richtigen Leben, einzelne Nostalgiker wie arrivierte Bildungsinstitute im Gebrauch und vor allem im Entziffern der Sütterlinschrift unterweisen. Am heutigen Samstag, zum Beispiel, können von 15 bis 17 Uhr bei einem Workshop im Wunsiedler Fichtelgebirgsmuseum „Anfänger“ lernen, zu „schreiben wie Uroma“. Was wir, vors Problem der Unleserlichkeit gestellt, kaum glauben wollen: Den kratzbürstigen Zeichensatz erfand der Buchgestalter und Grafiker Ludwig Sütterlin 1911 ausdrücklich als griffiges, „schlichtes Vorbild für den Anfangsunterricht“ in Schulen. Zur Grundlage sollte er taugen für die „Entwicklung flüssiger, schöner und deutlicher Handschriften“. Nach der offiziellen Abschaffung durch die Nazis 1941 setzte sich eine gefälligere lateinische „Ausgangsschrift“ durch, die den Grundschülerinnen und -schülern seither in modifizierten Spielarten beigebracht wird. Trotzdem sollten wir – über den zackigen Zeilen aus Großmamas Kochbuch die Köpfe schüttelnd – die heutigen Handschriften nicht voreilig für eine runde Sache halten: Auch in ihnen finden sich widerständige Haken und Ösen die Menge. In allen Fällen drücken Schönschriften und Sauklauen als Spielarten der Körpersprache zumindest andeutend auch unser Inneres aus. Und mit Blick auf die Geschichte verweisen die wechselnden Formen von Geschriebenem zutiefst auf eine je ganz andere Art, zu denken und sich mitzuteilen. ■
Elefant terrible
10. Oktober Unsere Sprache wandelt sich an jedem neuen Tag, und mit ihr das, was wir für wirklich halten. Im Duden, unserem maßgeblichen Wörterbuch, findet sich seit September 2022 neben dem Elefanten auch der Ottifant verzeichnet, eine Kreatur, die sich - ähnlich wie das auf vier Rüsseln einherschreitende Nasobēm des Dichters Christian Morgenstern - der Fantasie verdankt. Bloß für einen verstiegenen Spaß sollten wir jene kleinste Spezies aus der Familie der Elephantidae dennoch nicht halten, jetzt, wo sie zu den Ehren unseres die Wirklichkeit offiziell abbildenden Vokabulars erhoben worden ist und noch dazu greifbar und anschaulich vor wenigen Tagen ihren fünfzigsten Geburtstag feierte. Otto Waalkes, ihr Erfinder, hatte dafür seine Geburtsstadt Emden zum Schauplatz eines Partyspektakels und Spiele-Events ausersehen. Salven von Plüsch-Ottifanten warf er ins dankbar-begierige Publikum. Geschaffen allerdings hat der auch malerisch begabte Komiker das witzige Wesen vergleichsweise beiläufig, 1973 für eine Platte seines Labels „Rüssl Räckords“. Heute verkörpert es die ungebrochene Beliebtheit des Comedians durch Allgegenwart. Aus einer grafischen Mücke ist buchstäblich ein Elefant geworden. Das mag uns animieren, den oft mehr als merkwürdigen Wegen nachzusinnen, auf denen Tiere in unsere Redensarten, in den Duden und andere Lexika gefunden haben. Umso lieber tun wir es, als in Emden beim Ottifantenfest der Bär steppte. Schlau wie ein Fuchs muss Otto sein – und überdies das Herz eines Löwen besitzen –, um mit seinen 75 Jahren immer noch den Clown zu machen, indem er sich kindlich-kindisch aufführt wie der Elefant im Porzellanladen. Zu seinem Erfolgsrezept gehört, einen Bock nach dem anderen zu schießen und den Leuten einen Bären und noch einen aufzubinden. Trotzdem hieße es Eulen nach Athen tragen, wollten wir seinen Fans erst lang und breit erklären, dass auf der Bühne gerade das vermeintlich Leichte oft arg schwerfällt. Irgendwie tanzt ein Humorist ja immer mit dem Wolf: Für ein Zwei-Stunden-Programm muss er ein Gedächtnis haben wie ein Elefant, da beißt die Maus keinen Faden ab, und doch erlebt er bisweilen, dass ein Publikum verständnislos wie der Ochs vor dem Berg seiner Pointen steht, ohne eine Miene zu verziehen. Durfte er sich vor den Zuschauenden am Tag zuvor vielleicht noch wie ein Fisch im Wasser fühlen – jetzt steht er wie ein begossener Pudel da und staunt: Da wird doch der Hund in der Pfanne verrückt ... Um die Katze aus dem Sack zu lassen: Wahrscheinlich haben Kasper, Kabarettisten und andere professionelle Spaßvögel weit mehr Grund für allabendliches Lampenfieber als die Unglücksraben aus dem tragischen Fach. Und um auf die Ottifanten zurückzukommen: Ihre Gleichmütigkeit hat sich Otto Waalkes von ihren selbstbewusst starken, doch sanften Gefährten in der freien Wildbahn Afrikas und Asiens abgeschaut. Der in jedem Fall furchterregende éléphant terrible ist hingegen der „Elefant im Zimmer“, jenes Problem also, das jeden und jede in einer Runde belastet, während niemand sich traut, es offen anzusprechen. Mit solchem Untier des Totschweigens sollten wir den Ottifanten nicht verwechseln, den die Deutsche Post 2017 mit den freundlichen Farben der Pace-Flagge auf eine Sondermarke druckte. Schon gar nicht haben mit ihm die beiden Bronze-Exemplare in Emden-Transvaal zu tun, deren Lippen innig in einem Kuss verschmelzen. Eher ähnelt ihm der grimme Dickhäuter, der im Emdener Otto-Huus vor einem Eimer steht: Auf Knopfdruck kann er kotzen. ■
Das Letzte
6. Oktober Wir sollten dem Unterhaltungsfernsehen nicht alles glauben. Zum Beispiel suggeriert uns ein Titel wie „Ich bin ein Star – holt mich hier raus“, dass es sich bei den Insassen des „Dschungelcamps“ um Künstlerinnen und Künstler von herausragendem Rang handle, doch ist bekanntlich das Gegenteil der Fall. Auch im „Big Brother“-Haus oder dem „Sommerhaus der Stars“, bei „Dancing on Ice“ oder „The Masked Singer“ prostituieren sich vor allem (wenn auch nicht nur) B- und C-Promis, die in seriöseren Formaten keinen Blumentopf gewinnen könnten. Berühmt wird so manche und mancher überhaupt erst durch den Sieg in solchem Wettbewerb, und vielen, die bei „Germany’s Next Top Model“, dem „Bachelor“ oder der „Bachelorette“ gewonnen hatten, blieben kaum ein paar Wochen Zeit, um einen Ruhm zu genießen, der danach verweht war wie ein Hauch verbrauchter Luft. Andere hattentatsächlich einst als Hauptfiguren ihres Metiers firmiert, bis ihrem guten Ruf der Treibstoff ausging: So kamen auch der Schlagersänger Costa Cordalis und der Schauspieler Mathieu Carrière, seine Kollegin Ingrid van Bergen oder Kommunen-Pionier Rainer Langhans im „Dschungelcamp“ an, mithin an einer televisionären Abseite, von der Anhänger gehobenerer Formen von Zerstreuung und Zeitvertreib meinen, viel weiter unten könne man in puncto Niveau nicht aufschlagen. Fans weisen das naturgemäß als elitäres Geschwätz zurück und zeigen auf die „Quoten“. Wirklich schafften es im vergangenen Jahr von den einschlägigen deutschen Showreihen „Let’s dance“ von RTL und „Wer stiehlt mir die Show“ von Pro Sieben mit durchschnittlich jeweils 1,23 Millionen Zuschauern auf den zweiten Platz – getoppt allein von der satirischen „Heute-Show“ des ZDF, die mit gut anderthalb Millionen das Ranking anführt. Dürfen wir also das „Trash-TV“ mit seinen Ekelhaftigkeiten, Nackt- und Bloßstellungen unbesonnen für das Letzte halten, wenn doch helle Scharen unbescholtener Zeitgenossen ihre helle Freude daran finden? Offenbar brauchen nicht wenige gutbürgerliche Seelen zu ihrer Reinigung die Konfrontation mit Übergriffen und Entgleisungen, Fauxpas und Indiskretionen, sofern sich ihnen, in sicherer Distanz, andere aussetzen müssen. Mit trash, also Müll, versorgt uns desgleichen die Kinematografie seit jeher reichlich; in der Reihe „SchleFaZ“ brachten es solche „Schlechtesten Filme aller Zeiten“ zu modernen Fernseh-Ehren: Seit 2013 ziehen Oliver Kalkofe und Peter Rütten Musterstücke der Leinwand wie „Sharknado“, den „Hausfrauen-Report“ oder „Mutant – Das Grauen im All“ durch den cineastischen Kakao. Doch bald ist damit Schluss: Zum Jahresende stellt Tele 5 die populäre Reihe ein, wie der Sender jetzt verlauten ließ. Mit Intelligenz oder ihrem Fehlen habe eine Vorliebe fürs Müll-Fernsehen und -kino übrigens nichts zu tun, fanden Soziologen heraus: Auch helle Köpfe aus der Oberschicht ziehen sich gelegentlich oder regelmäßig eine line des angeblichen „Unterschichtenfernsehens“ berauschend rein. Dies Wort stammt, nebenbei, von Harald Schmidt, der auch nicht mehr das ist, was er mal war; muss womöglich selbst er, der deutsche TV-Satire-Star der Neunziger, bald in den Dschungel? Seit 2019 gibt es hundert der trashigen „SchleFaZe“ bunt und Schwarz auf Weiß, gedruckt als Buch, zum Lesen. Letzteres gehört indes schon immer zu den erhabenen Techniken hochkultivierter Zivilisationen; es führt uns in die Niederungen der Trash-Presse nach Art der Bild-Zeitung so sicher wie auf den Gipfel des Thomas-Mann’schen „Zauberbergs“. ■
Was Eigenes
3. Oktober Der Aberglaube vieler Mitmenschen verbietet es uns, ihnen bereits vor dem Geburtstag zum Geburtstag Glück zu wünschen. Dies bringe, so weist man uns zurecht und zurück, Unglück. Einem Toten freilich kann nicht mehr viel Schlimmes widerfahren, und wer so viel Ruhm und Nachruhm auf sein helles Haupt geladen hat wie Vicco von Bülow, dem gebühren überhaupt immer und erst recht im Jahr seines hundertsten Geburtstags ein ganzes Jahr lang unsere Gratulationen aller Art. 1923 kam der wohl hintersinnigste Vergnügungskünstler des deutschen zwanzigsten Jahrhunderts – der sich nach dem französischen Namen für das Wappentier seiner Familie, den Pirol, Loriot nannte – in Brandenburg an der Havel zur Welt, am 23. November. Wenngleich heuer bis zu diesem Datum noch 51 Tage vergehen müssen, brechen doch schon die Dämme der öffentlichen Feierwut. Verständlich, hatte die Republik doch mit ihm – so wie seine Fernsehpartnerin Evelyn Hamann mit dem Jodeldiplom – „was Eigenes.“ In Frankfurt/Main stellt das Caricatura-Museum seit vergangenem Mittwoch unterm klassischen Titel „Ach was“ 705 Exponate aus, allem voran berühmte Cartoons von Loriot und Filmszenen aus seinen viel zitierten Fernseh- und Kinokunststücken, doch ebenso unbekannte Fotos, Drehbuchseiten, Entwürfe des erklärten Opernfreunds zu Bühnenbildern; und sogar die „Nachtschattengewächse“ aus dem malerischen Spätwerk treten an den lichten Tag. Am Freitag in einem Monat dann räumt die ARD dem – 2011 in Ammerland gestorbenen – Großmeister einen „crossmedialen Thementag“ ein, dazu eine ganze „Aktionswoche“ in den Fernseh- und Hörfunkprogrammen, der Media- und der Audiothek. Porträtiert wird hier wie da ein Mann für wirklich alle Fälle: nicht einfach ein genialer Witzezeichner, brillanter Regisseur und Schauspieler und grandioser Maskemacher; sondern einer der ganz wenigen Satiriker, die ihren Spott zwar reichlich, indes nicht ätzend ausgossen, nicht als Häme, Hohn und Grausamkeit, sondern aus einer Warte mitmenschlichen Verständnisses, wenn nicht Erbarmens heraus. Überlegen war sein Humor, überheblich nie. In seinen Bildgeschichten, TV-Sketchen und den beiden Leinwandkomödien fasste er den bürgerlichen Deutsch- und Durchschnittsmenschen ins Auge, als kuriose Urzelle der Nachkriegsgesellschaft: In dessen Wunderlich- und Unverbesserlichkeiten beschreibt er ihn beim Umgang mit Eiern und Einbrechern, mit Hunden, Kindern und anderen Tieren, er begleitet ihn ins Bett und ins Badezimmer („Die Ente bleibt draußen!“), zur Erwachsenenbildung und an den Parkautomaten mit dem „für den Münzeinwurf vorgesehen Münzeinwurf“, oder er sprengt ein Atomkraftwerk („Muss das sein … ?“). Loriots Kunst und Können offenbaren das ganz normale, nämlich oft genug verkrachte Alltagsleben als Zeichen und Wunder im Privaten wie in der Politik: wenn er, zum Beispiel, im Bundestag vor der „Nudelkrise“ warnt oder im Restaurant erleben muss, wie wegen einer Nudel an der Lippe die gefühlvolle Annäherung an die Dame seines Herzens scheitert, wenn er als muffiger Spießer aufräumend ein fremdes Wohnzimmer verwüstet („Das Bild hängt schief“) oder als dickblütiger Chef verzweifelnd einvernehmlichen Körperkontakt mit seiner Sekretärin versucht: „Andere machen es doch auch!“ Wer mit Loriot lacht, lacht die Menschen nicht aus, sondern über sie, was meistens heißt: auch über sich selbst. Dass wir ihn hatten: welch ein Glück. ■
Deutsch mit Mängeln
29. September Was hat Deutsch mit Chinesisch und Finnisch, Arabisch und Isländisch gemeinsam? Unsere Sprache gehört, wie die anderen genannten, nach Auskunft der Unesco zu den zehn schwierigsten auf Erden. Nun könnten wir meinen, wir als Einheimische dürften uns freuen, ein so hochkomplexes Verständigungsmedium nicht erst mühsam in der Schule lernen zu müssen, sondern es gleichsam mit der Muttermilch einzusaugen. Weit gefehlt indes: Sogar wir Muttersprachler geraten leicht ins Schlingern angesichts der zahllosen Seltsam- und Widersprüchlichkeiten unseres Wortschatzes und unserer Grammatik. „Medienkompetenz sehr gut, deutsche Sprache mangelhaft“, titelte der Deutschlandfunk Kultur schon im Jahr 2012, als er über „massive Lücken“ in den orthografischen und grammatischen Kenntnissen deutscher Studienanfänger an philosophischen Fakultäten berichtete; auch in den Jahren 2014, 2018 und so fort klangen entsprechende Verlautbarungen nicht viel optimistischer. Zum Beispiel beklagten Professoren der Zürcher Uni Im vergangenen Jahr einen „zum Teil abenteuerlichen Umgang mit der deutschen Sprache in studentischen Arbeiten“. Das Problem zeichnet sich schon lange vor dem Abitur ab: Heuer im Mai ermittelte das Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen, dass jeder vierte Viertklässler im Lande nicht richtig zu lesen und zu schreiben versteht. Schmerzlich kommt hinzu, dass junge Leute neben Methoden korrekter Wortwahl, Rechtschreibung und Syntax offenbar auch viele Begriffe unserer Hoch- und Alltagssprache aus dem Sinn verlieren, die Wert und Gewichtigkeit besitzen und vielen älteren Zeitgenossen lieb geworden sind. Wer etwa heute vor einer Reise sein Zeug oder seine Sachen zusammenpackt, hat das vor noch wenigen Jahrzehnten mit seinen Habseligkeiten getan – ein Wort, dessen Bedeutung die meisten zwölfjährigen Jungs und Mädchen eines humanistischen Gymnasiums in der Region schon nicht mehr kennen, wie die Latein und Deutsch unterrichtende Ehefrau des Schreibers dieser Zeilen zur Kenntnis nehmen musste. Obendrein verschwindet mit Wörtern solcher Art auch ein Gutteil Wohllaut aus unserem Gesprochenen. Als 2004 das Goethe-Institut und der in Wiesbaden ansässige Deutsche Sprachrat nach dem „schönsten deutschen Wort“ fragten – und Antworten aus 111 Ländern erhielten –, gelangten, sehr zu Recht, besagte Habseligkeiten auf Rang eins. Den zweiten Platz besetzte die Geborgenheit, jene Art von Nestwärme, wie sie nicht zuletzt von einer achtsam gepflegten Muttersprache ausgeht. Nicht alle aussterbenden Wörter sind, nur weil sie alt sind, auch altmodisch. Dass freilich farbig tönende Preziosen wie der Hagestolz und das Hasenpanier, das Labsal (für eine genussreiche Erfrischung) oder der Eidam (für den Schwiegersohn) ungeachtet ihrer Plastizität untergehen oder -gingen, ist notgedrungen dem zeitgemäßen Wandel und anpassungsfähigen Fortschritt unserer Sprache geschuldet und muss selbst von den Traditionsbewusstesten unter uns hingenommen werden. Wenn uns also ein Macho mit zu viel Gel in der Frise unangenehm auffällt, weil er reihenweise geile Girlies anmacht, die nicht bei drei auf dem Baum sind, sollten wir von ihm nicht als von einem Pomadenhengst schwadronieren, der mit jeder liebreizenden Maid poussiert. Sonst müsste es vielen – und nicht nur jungen – Leuten so vorkommen, als sprächen wir chinesisch, arabisch oder finnisch mit ihnen. ■
Der Pandora-Effekt
23. September Immer mehr Menschen, Institutionen, Veranstalter meinen es immer besser mit uns. Damit nichts unser Gleichgewicht in der bedrohlich trudelnden Welt behellige, senden sie allenthalben sogenannte Triggerwarnungen aus, sobald sie fürchten, in ihren Angeboten stecke Störendes und Verstörendes, das uns irremachen oder gar traumatisieren könnte. So führt das Staatsschauspiel Dresden seit einigen Wochen die „Lulu“, Frank Wedenkinds „Skandalstück“ um die Nymphomanie eines „wilden, schönen Tiers“, mit einem Mann in der Titelrolle auf und weist empfindliche Gemüter sicherheitshalber darauf hin, dass der Protagonist, seine (biologische) Geschlechterzugehörigkeit untermauernd, immer mal wieder die Hose fallen lässt. Vor gut einem Jahr sahen wir uns schon einmal an dieser Stelle genötigt, Skepsis gegen die um sich greifende Praxis laut werden zu lassen. Seit Kurzem nun triggern uns neuerlich Triggerwarnungen, diesmal gleichsam auf einer Metaebene: Es irritiert uns nämlich kein bestimmter Trigger – also kein Akut-Auslöser für etwas mental Unliebsames –, sondern die aktuelle Berichterstattung über derlei Alarmzeichen. Zum einen vermelden viele Medien, dass TV-Sender, die alte Folgen der „Otto-Show“ oder von „Schmidteinander“ ausstrahlen, zuvor Hinweisschilder einrücken, die zu vorsichtigem Genuss raten: „Das folgende fiktionale Programm wird, als Bestandteil der Fernsehgeschichte, in seiner ursprünglichen Form gezeigt. Es enthält Passagen mit diskriminierender Sprache und Haltung.“ Zum andern kommt ein Trigger-Trigger, eine Warnung vor der Warnung, aus den Vereinigten Staaten in Form seriös ermittelter Forschungsergebnissen zu uns. Sie belegen nicht zuletzt den „Pandora-Effekt“, jene uns offenbar eingeborene pressante Neugier, mit der wir uns ausgerechnet solchen Reizen, Dingen und Situationen aussetzen, die absehbar unseren Widerwillen hervorrufen, wenn nicht gar unangenehme Folgen für uns zeitigen. „Insgesamt haben wir festgestellt, dass Warnungen keinen Einfluss auf die den Gemütszustand betreffenden Reaktionen auf negatives Material haben“, schreiben die Forschenden um Victoria M. E. Bridgland im angesehenen Magazin Clinical Psychological Science. „Allerdings verstärken die Warnungen zuverlässig den antizipatorischen [vorwegnehmenden] Affekt.“ Vieles also deutet darauf hin, „dass die Warnungen die Beschäftigung mit negativem Material unter bestimmten Umständen sogar noch verstärken“. Aber das haben wir ja schon als Kinder am eigenen Leib erfahren: als wir bevorzugt eben jenen riskanten oder delikaten Phänomenen der Erwachsenenwelt nachforschten, die Mama und Papa vor uns geheim und im Verborgenen halten wollten. Hinzu kommt die unterschiedliche Bedrohlichkeit dessen, das den Alarm auslöst: Zweifellos zwar sollten Migräniker auf den Einsatz von Stroboskop-Blitzen hingewiesen werden, weil sie Schmerzattacken auslösen können; hingegen sind mahnende Ansagen, aktive Nacktheit betreffend, längst sinnlos geworden: Schon viele Zwölfjährige haben sich mit allen, selbst harten Formen der Pornografie vertraut geamcht. Zeitlose Gültigkeit dürfen indes die berühmtesten Tragödienverse aus der „Antigone“ des antiken Griechendichters Sophokles beanspruchen: „Ungeheuer ist viel, doch nichts ungeheurer als der Mensch“ – eine Triggerwarnung vor dem Ungeheuer, das in jedem von uns steckt. Sie ist 2465 Jahre alt und gilt noch immer. ■
Ross und Reiterin
23. September Eine junge Dame hoch zu Ross beeindruckt viele von uns weit stärker als ein alter weißer Mann auf einem Gaul. Von den Legionen reitender Kriegsmänner – wie den Skythen und Hunnen, den Magyaren oder den Mongolen Dschingis Khans – sprechen wir mit mehr Grauen als Hochachtung; umgekehrt verhält es sich bei den sagenhaften, nicht minder grausamen Amazonen: Die verlangen uns eine gewisse Bewunderung ab. Bis in die jüngere Vergangenheit war das Reiten vornehmlich eine Angelegenheit für ganze Kerle und feine Herren, was sich in der Literatur spiegelt. Sofern dort Damen zu Pferde sitzen, so ists stets etwas Besonderes: Aus George R. R. Martins Fantasy-Epos „Das Lied von Eis und Feuer“, dem belletristischen Ursprung des TV-Serienhits „Game of Thrones“, strahlt Daenerys Targaryen auf ihrer Stute „The Silver“ edelmetallisch heraus; im „Herrn der Ringe“ von J. R. R. Tolkien zieht die schöne Éowyn auf ihrem stattlichen Renner „Windfola“ in die Schlacht (wofür sie sich allerdings als Mann verkleidet); in James Fenimore Coopers „Lederstrumpf“-Roman „Der letzte Mohikaner“ traben die ungleichen Schwestern Alice und Cora Munro durch die Gefahren der Wildnis; natürlich wollen wir „Die Frau, die davonritt“ – aus D. H. Lawrences Novelle – nicht links liegen lassen, die ihre Familie verlässt, um in einem altmexikanischen Ritual einen erotischen Tod zu finden; genauer freilich erinnern wir uns an Pippi Langstrumpf, von ihrer Erfinderin Astrid Lindgren stabil auf dem Rücken des Wallachs „Kleiner Onkel“ platziert. Im Lauf der Kriegs- und Kunstgeschichte galt kaum eine Frau als ‚groß‘ genug, dass die Mit- und Nachwelt sie respektvoll mit einem Reiterstandbild hätte verherrlichen wollen. Diese Spielart des Denkmals, durch Lebens-, wenn nicht Überlebensgröße geradezu aufdringlich unübersehbar, blieb siegreichen Kriegsherren und triumphalen Machtmännern vorbehalten, wenn auch nicht ausschließlich. So schreiben die Franzosen ihrer Nationalheldin, der 1431 im Hundertjährigen Krieg verbrannten Jeanne d’Arc, neben frommer Duldsamkeit auch eine derart heroische Autorität zu, dass sie Idealgestalten der „Jungfrau von Orleans“ wiederholt kolossal in Bronze aufrichteten, so 1855 in Orleans selbst, 1893 in Chinon, 1900 in Paris. Ganz anderes findet sich in der sizilische Kleinstadt Scicli: Dort zermalmt eine Marien-Figur, die Madonna delle Milizie, sarazenische Aggressoren unter den Hufen eines steil auf der Hinterhand steigenden Pferds. Politikern und Politikerinnen der jüngeren und jüngsten deutschen Geschichte wurde die Ehre eines Reiterstandbilds nicht zuteil – mit einer Ausnahme: 2021 hatte der Künstler Wilhelm Koch vor dem Tempel-Museum in Etsdorf, einem Flecken im oberpfälzischen Landkreis Amberg-Sulzbach, Angela Merkel auf ein Ross aus dem 3-D-Drucker gesetzt. Weil der Zügel fehlte, behielt die Exkanzlerin die Hände frei, um damit ihre charakteristische „Raute“ zu formen. Länger als zwei Jahre waren dem Monument indes nicht beschieden: Verrottet brach es vor wenigen Tagen in Stücke. Eine symbolische Bedeutung sollten wir dem Ereignis aber nicht zuschreiben, verließ doch die Politikerin ihr hohes Amt aus freiem Willen und nicht, weil sie gestürzt worden wäre. Nicht als Kriegerin, jedoch notorisch kämpferisch hat sie von der Finanz- bis zur Coronakrise alle Hürden unbeugbar genommen. Sportliche, womöglich reiterliche Ambitionen sind von ihr hingegen nicht bekannt. Immerhin wandert sie gern, wobei sie sich, statt auf vier Hufen, auf den eigenen zwei Füßen fortbewegt. ■