Hochfranken-Feuilleton
 Jede Art zu schreiben ist erlaubt, nur nicht die langweilige.  (Voltaire)

Er will bloß spielen

Im Weltfußball reißt ein Spielertransfer schon mal die 200-Millionen-Euro-Marke. Dass in der Kicker-Provinz zwar die Geschäftemacherei, nicht aber die Gefühllosigkeit kleiner ausfällt, führt das Drei-Personen-Match „Der rote Löwe“ im Theater Hof vor: ein perfektes Dialogstück in perfekter Dialogregie.

Benjamin Muth, Volker Ringe, Jörn Bregenzer (von links): Ein Kampf wie um eine Trophäe. Oder wie um einen letzten Strohhalm? (Fotos: H. Dietz Fotografie)


Von Michael Thumser

Hof, 29. November – Der Ball ist rund, und ein Spiel dauert neunzig Minuten. Das Spiel im Studio des Theaters Hof dauert genauso lang, und um Fußball gehts auch hier, wenn auch, statt in zwei Mal 45 Minuten, in drei kurzen, schnellen Akten ohne Halbzeitpause.

     Nach dem Spiel ist vor dem Spiel, und jedes ist ein Spiel mit der Hoffnung: Allwöchentlich blüht sie in den Fans aufs Neue. Als Hoffnungsträger kommt Jordan zu den „Roten Löwen“, und einen wie ihn kann der desolate Provinzverein wahrlich gut brauchen. Der Platz ist „verseucht“, raunzt Trainer Kidd, denn drunter liegen, weil hier mal ein Friedhof war, „zwanzigtausend Leichen“; in spätestens fünf Jahren soll hier ein Wohngebiet mit Einkaufsmall entstehen. Als „Leichenhalle“ hat Kidd, der „majestätische Taktikguru“, den Club einst übernommen und zur „Siegermannschaft“ hochgepuscht. Als Star des Teams und der Liga „erwählt“ Kidd den jungen Jordan – denn so lässt sich das Ausnahmetalent später für gutes Geld an die betuchtere Konkurrenz verhökern; wobei für den notorisch in Geldklemmen steckenden Trainer ein schöner Batzen abfallen dürfte. Dem schlauen Plan stemmt sich indes Yates entgegen: Der, einst Spielerlegende, jetzt verfallenes Faktotum, hängt altmodischen Werten wie Fairness und Teamgeist nach und will auch Jordan darauf einschwören. Um den immer verwirrteren Neuzugang kämpfen er und Kidd wie um eine Trophäe. Oder wie um einen letzten Strohhalm?

     In der Saison 2017/18 kaufte Paris Saint-Germain dem FC Barcelona den Brasilianer Neymar ab und ließ ihn sich 222 Millionen Euro kosten: der teuerste Spielertransfer aller Zeiten. Für die „Roten Löwen“ hat es der britische Dramatiker Patrick Marber ein paar Nummern kleiner: Im englischen Kaff reichen dreißig oder hundert Pfund, um einen Charakter zu korrumpieren. Da wie dort aber laufen die Methoden des Menschenhandels und seine herzlosen Rechtfertigungen aufs Gleiche hinaus.

Urzellenkleiner Mikrokosmos

Im Hofer Studio schnurrt die weite Welt des internationalen Sports auf den urzellenkleinen Mikrokosmos einer muffigen Mannschaftskabine an der Peripherie zusammen. Für das Konversationsstück, das Autor Marber („Hautnah“) mit geistesgegenwärtiger Zungenfertigkeit explizit als Fußballspieler- und Schauspielerdrama abgefasst hat, schuf Ausstatterin Annette Mahlendorf einen Schauplatz von originalgetreuem Naturalismus: Den Zuschauenden wabert förmlich das Umkleide-typische Mischarom aus verschwitzten Socken und Sportschuhsohlengummi, Duschraum und Deospray entgegen. Theater für Schauspieler hat Ralf Hocke denn auch inszeniert: Geschwind, gewandt und wendungsreich dibbeln die Akteure mit dem Text und schicken ihn in präzisen Pässen hin und her. Perfekte Dialogregie für perfekte Dialoge: Greifbar, apodiktisch und ohne belehrende Symbolik geben sich drei denkbar gegensätzliche Naturen zu erkennen, reich an Tonschwankungen und differenziert geregelten Lautstärken – bis hin zum akustischen Leitmotiv, dem Scheppern der zornbebend traktierten Spindtüren. Auf dem Platz gäbe es für Kontrollverluste solcher Art die rote Karte.

In der Umkleide: Mischarom aus verschwitzten Socken und Sportschuhsohlengummi, Duschraum und Deospray.

     „Elf Freunde müsst ihr sein?“, giftet Kidd. „Das war mal.“ Während draußen, auf dem „verseuchten“ Rasen, die Spieler ihre Knochen hinhalten, drechselt er drinnen körpergepflegt im schicken Anzug an seiner Karriere. Jörn Bregenzer, seit anderthalb Wochen im Großen Haus als Georgia McBride mit weiblich-weichen Seiten überraschend, gibt hier vehement viril und mit verbalen Vulkanausbrücken den ganz harten Hund: ein „klassischer Choleriker“, eitel und narzisstisch. Yates, als unbezahlter Zeugwart im Verein gerade noch geduldet, sagt ihm in aller Friedhofsruhe ins Gesicht, dass Kidd selber eine „Seuche“ sei, allerorten Keim und Kulminationspunkt von Konflikten, ausgestattet mit einem „Mundwerk wie eine Latrine“. Bregenzer hält sich daran wie an eine Regieanweisung, mit beängstigender Konsequenz.

Schlurfender Schluffi

In einer anderen Zeit hat Yates selbst als Lichtgestalt gestrahlt. Das ist lang her. Von seinem einen Supertor damals träumt er gelegentlich noch jetzt: „Niemals wurde ich so geliebt.“ Doch vom rasenden Rasenheros blieb nur noch eine Ruine übrig: bei Volker Ringe ein schlurfender Schluffi im hochgeschlossenen Trainingsanzug mit Seniorenkappe. Seine hängenden Wundwinkel hat der Gram versteinert, Lethargie hält ihn gefangen; umso erschreckender, wenn seine Stimme dann doch mal abkanzelnd aus ihrem Dauer-Sotto voce aufersteht. Was nicht recht zusammenpasst, Desillusionierung und Idealismus – Ringe fügt es bündig zusammen: Jordan, den Novizen, würde er gern nach seinem Traumbild formen, doch begreift er bald, es nicht mit einem unbeschriebenen Blatt zu tun zu haben. Zwar, „Ich will nur spielen“, sagt der Junge unbedarft, und so, wie Benjamin Muth es sagt, glaubt mans gern. Aber für einen Einfaltspinsel hält man den Burschen nicht lang: Auf seiner straff-glatten Sportlerhaut fährt Muth die unsichtbaren Stacheln dickköpfiger Undurchsichtigkeit aus. Wortkarg, aber eigensinnig widersetzt er sich den Manipulationen beider Geister auf seinen Schultern, des diabolischen Kidd und des gefallenen Engels Yates, und lässt dunkel ahnen, dass er und sein medikamentenabhängiges Knie ein paar Geheimnisse und Absichten für sich behalten.

Karrierist Kidd schurigelt den Könner: Klassischer Choleriker mit einem Mundwerk wie eine Latrine.

     Fußball – das Spiel als „Deal“. Doch allein darüber, wie Sport vom „Spaß“ zur Hochrisiko-Spekulation verkommt, will der Autor natürlich so wenig berichten wie der Hofer Regisseur mit seinem bestechend kooperierenden Darstellertrio. Zum Symbol, das aufs Allgemeine deutet, taugt der Fußball eben doch: Je höher „Der rote Löwe“ aufzusteigen trachtet, desto tiefer sinkt die Moral; wer das große Geschäft wittert, muss sich freimachen von Güte, Großmut und anderen störenden Gefühlen. Mit „elf Freunden“ am Ball sind an den Hotspots des Sports Abermillionen zu generieren; in der Provinz indes rettet jeder allein gegen alle für ein paar Pfund „den eigenen Arsch“. Nach dem Deal ist vor dem Deal, und wer in die nächsthöhere Liga strebt, hält es am besten mit Lothar Matthäus: nur nie „den Sand in den Kopf stecken“.

■ Informationen über die Produktion und weitere Vorstellungen im Internet: hier lang.



Eine unendliche Schleife
Isa ist „nicht wie andere Mädchen“. Im Studio des Theaters Hof gibt es sie sogar dreifach. Aus den „Bildern deiner großen Liebe“, dem postumen Roman Wolfgang Herrndorfs, hat Regisseurin Kasia Noga eine tragikomisch untertönte, vor allem aber komödiantische Bühnenfassung destilliert.

Julia Leinweber, Carolin Waltsgott, Oliver Hildebrandt (von rechts): "Mein Leben ist einfach das, was geschieht.“ (Fotos [2]: H. Dietz Fotografie)


Von Michael Thumser

Hof, 21. November – Wer einsam ist, sitzt in einem Gefängnis. Allein reisen, ohne Bestimmungsort – das hingegen muss die volle Freiheit sein.

     Isa bricht aus, um zu reisen: Sie haut aus der Anstalt ab, in der sie einsaß, weil sie nicht ganz richtig im Kopf zu sein scheint. „Verrückt“, sagt sie selber, sei sie, aber „nicht bescheuert“. Nun, auf freiem Fuß, auf freien Füßen kreuzt sie durch die Welt – die Welt in ihrem Kopf. Allein ist sie und auch wieder nicht: Auf ihrem Roadtrip – dem Duden zufolge eine „weite Reise ohne feste Streckenplanung“ – begegnet sie einer Autofahrerin, die ihr in den Schritt fasst; eine Fußballmannschaft hechelt ihr literweise Testosteron entgegen, als sie sich unterm Rasensprinkler eines Sportplatzes wäscht; ein Junge sammelt Frösche in einem Eimer, dessen dunkler Boden ihr wie der schwärzeste Abgrund des Lebens erscheint; auch auf dem Wasser reist sie, auf dem Kahn eines Ex-Bankräubers, der als friedlicher Flussschiffer ein kleinbürgerliches Dasein genießt … Schließlich liegen ein totes Reh und ein ebensolcher Jäger vor ihr, und eine Pistole, die sie an sich nimmt.

Der Sonne einen Stups geben

Rowohlt-Verlag, 144 Seiten, gebunden 16,95, als Taschenbuch 10 Euro.

Isa, „vierzehn, wenns hoch kommt“: Sie kennt man als das Mädchen aus „Tschick“. In Wolfgang Herrndorfs Weltbestseller von 2010 treffen die beiden jugendlichen Romanhelden die Göre auf einer Müllkippe und nehmen sie in ihrem geklauten Lada mit. Insgeheim dazugehörig erschienen 2014, im Jahr nach dem Freitod des Autors, postum seine „Bilder deiner großen Liebe“. Ausdrücklich ein „unvollendeter Roman“: Die fragmentarische, dem Wortsinn nach kunstvoll unüberschaubar in tausend Teile aufgebrochene Geschichte gehört Isa ganz allein. Was sich aus den verwobenen Lichtblicken, Nachtstücken, Gedankenscherben als Handlungsfaden heraustrennen lässt, hat Kasia Noga fürs Theater Hof auf eigene, sehr freie Weise von allen vordergründigen Zusammenhängen gelöst und aus der Welt des Objektiven in Isas Inneres, ihr Fühlen, Spüren, Ahnen übertragen. Gelungen ist ihr damit eine assoziative Textkomposition nach Art eines freirhythmischen, hochdynamischen Langgedichts. Bei der reich beklatschten Premiere am Samstag bestach das Ergebnis, mitreißend für alle Mitreisenden im Studio, nicht als herkömmliches Drama, sondern als ausgelassen gespielte Prosa zum Anschauen, als Wortbildershow, tragikomisch durchtönt und vor allem komödiantisch, „verrückt, nicht bescheuert“.

     Isa reist allein, aber in Hof ist sies nicht. Aufgespaltet in drei Akteure, zwei junge Frauen und einen Mann, manifestiert sich ihr überwaches Bewusstsein, ihr Erlebtes und Erinnertes. „Ich wollte ein Junge sein, solange ich denken kann“; sie wurde immerhin „ein Mädchen, das nicht wie andere Mädchen ist“. Gerade so, radikal nonkonform und unaufhaltsam impulsiv, teilen sich Carolin Waltsgott, Julia Leinweber und Oliver Hildebrandt vor einem flatternden, alsbald ramponierten Lamellenvorhang die nicht eben handliche Figur, ihr Gedachtes und Gesagtes, als wärs ein riesiger Spaß. Drei in einer sind sie und eine in dreien: kindlich-kindische Clowns in schrillbunten, aus Mädchen- und Jungs-Klamotten zusammengenähten Outfits (Bühne und Kostüme: Anna Kurz). Freilich steckt in jedem und jeder nicht nur ein Drittel von Isa, sondern stets ihre ganze hyperaktive Selbstermächtigung: „Im Anfang war die Kraft“, rufen sie, blasen die Backen auf und blinzeln über ihre ausgestreckten Arme ins Weite, um mit einem Stups der Daumenspitzen die Sonne aus der Bahn zu schieben. Den sich abstrampelnden Darstellern, die zwischendurch auch noch tanzen und als polyphones Terzett „Fly away, Seabird“ anstimmen, könnte leicht die Puste ausgehen: doch sind ihnen die Strapazen in den turbulenten Episoden – „fünf Millionen PS“ – so wenig anzumerken wie Erschöpfung während der gespannten Ruhephasen.

Fantasie und Fantastik

Die Welt des Objektiven in Isas Inneres, ihr Fühlen, Spüren, Ahnen übertragen.

Wann und wie ist man ‚ganz richtig im Kopf‘? Danach will die Regisseurin gar nicht fragen, schon gar nicht derart plump. Die „große Liebe“ scheint bei ihr die Liebe zum Leben zu sein. „Mein Leben“, sagt Isa, „ist einfach das, was geschieht“. Aber wo und wie „geschieht“ es? Aus der kuriosen Kurzweil, die Kasia Noga so beflügelnd inszeniert, tönen nicht einfach die regellosen Fantasien eines schizophrenen Gehirns; in Waltsgotts, Leinwebers und Hildebrandts kollektiver Erlebniserzählung erfüllt sich vielmehr ein singuläres Dasein durch die Freiheit ungezügelter Fantastik. In Schleifen lässt das Trio Textfetzen und Sinnsplitter wiederkehren; als „unendliche Schleife“ registriert Isa selbst ihr Denken. Zum Kreis schließt denn auch Kasia Nogas Regie den Schluss des Spiels an seinen Anfang an.

     So gleicht es wunderlich, aber keineswegs „meschugge“ dem Weg der Kugel, die Isa aus der gefundenen Pistole abfeuert, kerzengerade in den Himmel: „Fly home“ – steil senkrecht wie auf felsenfest geplanter Strecke fällt sie, dem Duden gemäß, in den Lauf der Waffe zurück. Isas Roadtrip durch die Innenwelt ist eine fröhliche Odyssee, bei der die Reisende, wie der homerische Held, nicht so sehr an ein äußeres Ziel gelangt, sondern, vor allem, bei sich selbst ankommt.

■ Informationen über die Produktion und weitere Vorstellungen im Internet: hier lang.



Eine Frau wird erfunden
Unversehens gerät  ein Elvis-Imitator in eine Drag-Show und wächst in Frauenkleidern über seine Männlichkeit hinaus. Das Theater Hof verortet die „Legende von Georgia McBride“ zwischen „Charleys Tante“, „Ganz oder gar nicht“ und „Hossa 1 bis 3“. Die Premiere gerät zum Sensationserfolg.

Was ist „Drag“, was das wahre Leben?: Jörn Bregenzer mit Stephan Boving (vorn links) zwischen Denison Silva, David Santos Ollero, Tamás Bartok und Norbert Lukaszewski. (Fotos: H. Dietz Fotografie)


Von Michael Thumser

Hof, 14. November –„Du bist eine Frau“, wird dem jungen Mann gesagt. Und sogleich fragt Casey sich entsetzt: Wenn das stimmt – ist dann sein Leben bisher, ist die uferlose Zuneigung zu seiner Partnerin Jo nichts als ein gewaltiger Irrtum gewesen, eine Lüge sogar? Als Presley-Double war er bisher immer gut für einen „geilen Auftritt: Ich war heiß.“ Im rot-weiß glitzernden Jumpsuit hat er hingebungsvoll wie „Elvis the pelvis“ das Becken kreisen lassen. Keine große Nummer war er gewesen, aber er hatte es ernst gemeint und gut gemacht. Nun ists aus damit: Seine Imitationen, die ihm und Jo mehr schlecht als recht die Miete eingebracht haben, mag niemand mehr sehen, weswegen Clubbesitzer Eddie auf was Neues setzt: auf „Drag“, jene Bühnenkunst und Lebensform, bei der Männer nicht einfach in üppige Damengarderobe schlüpfen, sondern sich mit einer künstlichen Identität, einer weiblichen „Persona“, als Frau erfinden. So mutiert Casey, der werdende Vater, zu Georgia McBride. Und wächst steil über sich hinaus.

     Caseys Geschichte und die „Legende von Georgia McBride“ erzählt das Theater Hof in einer Burleske ganz so, wie der Drag sie verlangt: Laut und vorlaut, schrill und schreiend bunt, lasziv aufstachelnd hat Intendant Reinhardt Friese das Stück des britischen Erfolgsautors Matthew Lopez inszeniert. Dass sich damit, vier Jahre nach Heidi Klums Fernseh-„Queen of Drags“, selbst biederes Bürgertum nicht mehr auf- oder abschrecken lässt, bewies am Samstag die Premiere: An ihrem Ende stand ein fast außer Rand und Band geratendes Publikum geschlossen jubelnd auf, um die Darstellenden um Jörn Bregenzer und das Regieteam mit frenetischem Beifall zu überfluten.

Der heißeste Laden Floridas

Wer so tief wie Casey in sein Äußeres und Inneres eingreift, weiß Hilfe zu schätzen. Als „Mentorin“ macht sich Stephan Boving anheischig: Stilvoll im Kleinen Schwarzen und unter blonder Dauerwelle schneit er als Miss Tracy Mills in Eddies Bumslokal herein, das er alsbald zum „heißesten Laden in Florida“ hochpuscht – mit Casey aka Georgia als leuchtendem Star. Eine Diva ist Tracy und dementsprechend auch eine Prüfung für die Nerven, vor allem aber kann man sich auf ihre mütterliche Lebensklugheit verlassen: Von Caseys „natürlicher Bühnenpräsenz“ rasch überzeugt, unterweist sie ihn geschwind sowohl im Gebrauch formgebender Damenunter- und erlesener Oberbekleidung als auch im Gebärdenpathos von „Qual, Drangsal, Reue“. Wie nebenbei gewöhnt sie dem „Schisser“, der sich nicht zum Prachtschmetterling, aber doch zum ansehnlichen Falter entpuppt, die homophobe Angst ab, für schwul gehalten zu werden und sich selbst dafür zu halten.

Jörn Bregenzer als Elvis Presley: Mitreißende Bereitschaft zu grundlegender Verwandlung.

     Denn noch unter der wildesten Perücke und mit den vorgeschnallten prallsten „Titten“ bleibt Casey seiner Jo (Kerstin Maus, liebevoll und liebenswert als alltagsvernünftige Gardinenpredigerin) von Herzen zugetan – und Jörn Bregenzer sich selber treu. Nicht auf den femininen Mann, schon gar nicht auf die allzu oft bös verhöhnte „Schwuchtel“ spielt er sich hinaus; er besteht darauf, viril und hetero zu sein, offenbart aber eine hin- und mitreißende Bereitschaft zu grundlegender, blitzartiger Verwandlung. Mit Elan, Eleganz und Enthusiasmus wirft er sich in die Rolle und in Schale. Während der Showteile und der Hits aus der Konserve entfesselt er eine Musikalität, die an „Natürlichkeit“ seiner hierorts seit zwanzig Jahren bewährten sprechtheatralen „Bühnenpräsenz“ nicht nachsteht.

Popkulturelle Sinnestäuschung

Bei Ikonen wie Dolly Parton, Madonna, Nancy Sinatra nimmt Bregenzer nicht bloß gelehrig Maß. Er nutzt ihre Songs, um sich, an der Außenhaut einer plakativen Popkultur, überhaupt das sinnestäuschende Stargehabe beflissen zu eigen zu machen, um Gedöns und Getändel, das anzügliche Gliederschmeißen und selbstverliebte Grimassieren tief in Ironie zu tauchen. Es ist, als wollte Casey – von Stephan Bovings Tracy eingewiesen, angefeuert, mitunter im Duett begleitet – all die von Geldnot und Familienrücksichten beschnittenen Freiheitsgelüste seines wahren Lebens gebündelt in den Fieberfantasien eines überkreativen Liveacts ausleben. In allem bleibt Bregenzer: Mann; eine überkandidelt weibliche Note fügt erst eigentlich Boving hinzu: Seine Tracy brennt, blitzt und blinkt als Prophetin einer sich behauptenden „Dragstravaganz“.

Kerstin Maus: Alltagsvernünftige Gardinenpredigerin, liebevoll und liebenswert.

     Was ist „Drag“? Was Caseys ‚wahres‘ Leben? Die Performance eines Mannes in Frauenkleidern? Oder eine Frau in Frauenkleidern, aber in einem Männerkörper? Drag, sagt Tracys bekennend vulgäre Begleiterin Roxy (Benjamin Muth, mit bösem Blick unterm fingerdicken Lidschatten und Haaren auf den Zähnen), „Drag ist eine erhobene Faust in einem Paillettenhandschuh.“ Und was ist „Die Legende von Georgia McBride“ in Hof? Verkapptes Musical – weil die Songs der Clou des Abends sind, nicht zuletzt durch die Herren Bartok und Lukaszewski, Ollero und Silva als schlüpfrig tanzende „chicks without dicks“ in schwarzem Mieder und mit Straps? Oder ists doch nur eine Boulevard-Posse, in der sich das Kerle-im-Fummel-Thema ein Mal mehr unweigerlich totläuft? Nichts davon oder von allem etwas.

Im Bermudadreieck

Zwar muss man dem Regie führenden Intendanten nicht zustimmen, wenn er im Programmheft den doch dünnen Stoff fast wie ein Ideendrama hochhält. Stilecht volatil aber lässt Reinhardt Friese die Komödie und den uneinheitlichen, wiewohl unbestreitbaren Geistreichtum ihrer Dialoge im Bermuda-Dreieck zwischen „Charleys Tante“, „Ganz oder gar nicht“ und „Hossa 1 bis 3“ kreuzen, ohne irgendwo verbindlich anzudocken. Frivol feiert er ein Theater des Mimus, des archaisch lustvollen Spieltriebs also, der „Liebe zum So-tun-als-ob und zum Publikum“, wie es im Stück einmal heißt. Auf der zwischen Tanzfläche und Backstage wechselnden Drehbühne macht er sich den Spaß, das Unverschleierte der Pikanterien mit immer neuen Verkleidungen zu drapieren, wofür ihm Ausstatterin Annette Mahlendorf eine Vielzahl glamouröser Kostüme entwarf. Allein Club-Patron Eddie – Dominique Bals als Blutsauger und Promotor in Personalunion – verbraucht pro Conférence ein schillerndes Extra-Outfit.

     Über und in der Narretei um Verstellung und Familientrouble, Gefühlsechtheit und Macker-Maskerade steht zweifellos aufrichtig die Werbung für Selbstachtung und für die Wertschätzung des wie auch immer Anderen. Meine es ernst mit dir: Sei, wer du bist; meine es ernst mit dem, was du tust: Machs gut – nicht als lautere Lebenslehre, sondern lärmend und lodernd mit Herzblut und -glut, Feuer und Flamme, zum Schluss mit Funkenflug aus der Konfettikanone wird die (zugegeben nicht taufrische) Botschaft aufs Schlagendste an Caseys Causa exemplifiziert. Ob als Elvis, ob als Madonna – dies ist Bregenzers bisher „geilster Auftritt“. Er ist … ja, man muss so sagen: Er ist „heiß“.

■ Informationen über die Produktion und weitere Vorstellungen im Internet: hier lang.



Was passiert ist, passiert
Eine Sehnsuchtsreise in den Frieden: Als deutsche Erstaufführung bringt das Theater Hof „Timetraveller’s Guide to Donbas“ heraus. Im Sci-Fi-Stück der Ukrainerin Anastasiia Kosodii stoßen Cornelia Wöß und Maurice Daniel Ernst mit schlagfertigem Sarkasmus zu den banalen Wurzeln des Kriegs vor.

Cornelia Wöß, Maurice Daniel Ernst: Ein schwarzer Raum, so gut wie leer, offen für alles. (Fotos: H. Dietz Fotografie)


Von Michael Thumser

Hof, 8. November – Eine Schriftstellerin aus der Ukraine schreibt ein Drama über den Krieg in der Ukraine. Dann muss es sich dabei ja wohl um ein theatrales Stimmungsbild der Furchtbarkeiten handeln, die Wladimir Putins Armee seit dem 24. Februar 2022 dort heraufbeschwört. Oder doch nicht? Anastasiia Kosodii, 1991 in Saporischschja geboren und nach ihrer Flucht zurzeit Hausautorin am Nationaltheater Mannheim, berichtet in dem Stück aus dem Donbass; in der gewaltigen Bergbau- und Industrieregion im Osten ihrer Heimat wird unaufhörlich gekämpft, seit dem Frühjahr 2014, als Russland die Krim besetzte. Führt die Szenenfolge also noch weitere acht Jahre zurück? Vielleicht auch nicht.

     Kosodiis Stück „führt“ – so viel immerhin steht fest. Es „führt“ weit herum. Im Theater Hof weitet sich die beschränkte Spielfläche des Studios unversehens zu einer Reiseroute an sechs Frontstädten entlang. Zurück „führt“ das Stück, aus der Gegenwart von „Angriff, Okkupation, Gegenangriff“ in die jüngste Geschichte, dorthin, wo all das begann. Und es „führt“ hinein: in Verstand, Seele und Gemüt einer jungen Frau – vielleicht eines Alter Egos für die Dichterin selbst –, die damals dreizehn, vierzehn Jahre alt war und zwischen „Ostergottesdienst“ und „blühenden Obstbäumen“ eine sorg- und arglose Kindheit verlebte, in einem Dorf, in einem Haus, im Frieden. Zu Begegnungs- und Gedächtnisräumen führt das Stück – und in ein Gedankenspiel: Man stelle sich vor, das Mädchen von einst tue sich, erwachsen geworden, als „Pilgerin“ im Jahr 2036 mit dem Erfinder einer Zeitmaschine zusammen; den Apparat und seinen Entwickler packt sie in ein Auto und überwindet Schritt für Schritt, Zeitsprung für Zeitsprung die Barrieren zur Vergangenheit.

Am Wendepunkt

Anastasii Kosodii stellt sich das in „Timetraveller’s Guide to Donbas“ vor. Betroffen und belustigt, loyal und überzeugt applaudierte ein hochkonzentriertes, rätselratendes Publikum am Samstag der deutschen Erstaufführung in Hof (nach der, nebenbei, gefragt werden darf, weshalb ein Stück aus der Ukraine auf einer deutschsprachigen Bühne einen angloamerikanischen Titel trägt). 2019 kam das Schauspiel am Lesi Ukrainki Theater in Lviv heraus, mithin drei Jahre, bevor Russland das Nachbarland neuerlich heimsuchte. „Was passiert ist, ist passiert“, heißt es ganz am Anfang, aber eigentlich müsste es heißen: „Was passiert ist, passiert“, nämlich wieder und immer noch und immer. Krieg, das verrät gegenwärtig jeder Tag und der Blick auch aufs Heilige Land, ist seit bald sechstausend Jahren eine konstante Größe im Weltlauf.

Erschöpfte Zutraulichkeit unterm Ukrainefähnchen.

     An den „Wendepunkt“ führt die Reise: dorthin, wo Nicht-Krieg in Krieg umschlägt; und zu dem Augenblick, als sich das Leben der Pilgerin verkehrte. Den Ursprung des Konflikts wollen sie und der Erfinder ermitteln; und sie finden ihn tatsächlich, einen „Auslöser“, wie er sich banaler und absurder nicht denken lässt. Vor allem aber ists eine Sehnsuchtsreise in den Frieden, bis hinter die „Grenzen“ der „Angst“, hinein in die Erinnerungen. Sie sind das wahre „Zentrum des Paradoxes“. Und die Zeitmaschine: Die sind die timetravellers selbst.

     Und der Donbass – ist kein Flecken auf der Weltkarte, sondern in Hof ein schwarzer Raum, so gut wie leer und darum offen für alles. Als Regisseur gesteht Dramaturg Philipp Brammer seinen beiden Akteuren gerade mal zwei schwarze Stühle als Staffage zu und verteilt ansonsten Licht und Lichter, folglich auch reichlich Dunkelheit, wechselnd um sie herum. Das genügt. Denn allein aus dem Text, dem Anastasiia Kosodii jede Szenen- und Spielvorschrift versagte, müssen sich die Vorgänge entwickeln. Unvorhergesehen entwickeln sie sich: trotz der Gewichtigkeit und Schwere, der Schwärze der Dia- und Monologe unvermutet leicht, gelegentlich gar humoristisch, jedenfalls ironisch. Indem ausführlich erzählende Partien in reaktionsschnelle Wechselreden und von dort in aufgebrochenes Silben-Staccato übergehen, schiebt sich unter die bedrückenden oder drolligen Pointen spielerisch ein unauffälliger, aber merklicher Rhythmus und Puls.

Poesie der Schleierhaftigkeit

Dergleichen verlangt den Akteuren eine ausgetüftelte Sprech-Choreografie ab. Cornelia Wöß und Maurice Daniel Ernst, wie Zeit-Maschinisten in graue Techniker-Overalls gekleidet (Kostüm: Annette Mahlendorf), meistern sie fabelhaft fantasie- und schwungvoll, tief- und abgründig, wendig originell. Er: ein noch junger ‚alter weißer Mann‘, mansplainer also, Hüter von Herrenwissen, obergescheiter Belehrer, kluger Kopf, doch zugleich Einfaltspinsel; sie: erst leicht, bald schwer von ihm genervt, „ganz schön schlagfertig“, wie er zugeben muss, tatsächlich schlau und gewitzt, von fast kindlich erwartungsvoller Neugier, deshalb dauernd zum Staunen bereit. So unbestimmbar der Text auch Wirklichkeitsbezüge, Surrealitäten und Reflexionen hinter Metaphern, dunklen Anspielungen, Verweisen für Eingeweihte verbirgt – in der Produktion treffen Sprachspiel und Spielraum, Gesichts- und Körperausdruck doch wunderbar zusammen und evozieren eine Wirkung, die, ungeachtet aller Schleierhaftigkeit, eines ganz gewiss ist: sehr poetisch.

     Dabei wollte die Autorin dies gerade nicht. Als sie das Stück schrieb – so teilte sie mit –, lobte ein Kollege es ausgerechnet für die Lyrik der Prosa. Also überarbeitete Kosodii den Text, um ihm die Poesie auszutreiben. Aber Brammers Regie, zusammen mit der akribisch darstellenden und deutenden Deklamation von Wöß und Ernst, holt ein Gutteil Wort-Kunst in die Künstlichkeit des Stoffes zurück. Der wird gerade so, in seiner Widersprüchlichkeit, der wutschäumend irrationalen Wirklichkeit gerecht.

     „Wenn man nichts vom Krieg weiß“, heißt es einmal, ist „der Krieg vorbei“. Aber das ist er keineswegs, nur weil die Medien von den Zerstörungen und dem Sterben in der Ukraine zurzeit nicht viel wissen und mitteilen wollen, weit weniger als vom Sterben und den Zerstörungen im Heiligen Land. Was hier passiert, passiert dort auch. Und dennoch - „Ich liebe die Sterne / die Sterne / die Sterne / trotz allem Hoffnung“, schwärmt die Pilgerin, wie träumend an eine Utopie verloren, in der Frieden mehr ist als Nicht-Krieg: die Abwesenheit jedes Gedankens an ihn.

■ Der Text des Stückes kostenlos im Internet (eingestellt vom Literarischen Colloquium Berlin): hier lang.
■ Informationen über die Produktion und weitere Vorstellungen im Internet: hier lang.




Feindliche Übernahme
Eine Videobloggerin annektiert aufgedreht ein Klassenzimmer und hält eine „absolut coole“ Schulstunde der anderen, freilich erhellenden Art: Im mobilen Einpersonenstück „Die Eisbärin“ verhandelt Valerie Bast vom Theater Hof kindgerecht Fragen wie „Wer bin ich?“ und „Wie wichtig sind die anderen?“

Debütantin Valerie Bast als Mona: 24 Stunden, die über das Hopp oder Top ihrer virtuellen Existenz entscheiden. (Fotos: Theater Hof)


Von Michael Thumser

Hof, 20. Oktober – Wie sieht die Hölle aus? Unabsehbar öde, dunkel wie Kohle, rot wie Glut, über der das Feuer ewig lodert? Im aktuellen Fall ist sie zwar pragmatisch-schmucklos möbliert, aber hell und gut gelüftet, und ziemlich lebendig geht es in ihr zu – nämlich im Zimmer der quirligen Klasse 7b. Trotzdem, eine „ziemlich trostlose Vorhölle“, findet zumindest Mona, als sie mitten in den Unterricht platzt. Mit ihren 22 Jahren gehört sie wahrlich hier nicht rein, aber das stört sie nicht, im Gegenteil. Als „absolut coole“ Videobloggerin ist sie immer auf der Suche, nein: auf der höllenheißen Jagd nach Publikum, und das darf ausnahmsweise auch mal ein leibhaftiges sein.

     Ansonsten spielt sich Monas Leben nicht im real life, sondern handybildschirmbilderklein im Internet als You-Tube-, Insta- oder Snapshot-Video ab. Mona, das schick gestylte Energiebündel im weißen Eisbären-Jäckchen mit den niedlichen Öhrchen an der Kapuze, sie hält beharrlich die Augen vors Display ihres stets aufnahmebereiten Mobiltelefons und das Telefon vor die Welt. Täglich, wenn nicht stündlich wollen ein paar Zehntausend Follower wissen, was sie so treibt. Fröhlich wirbelt sie um sich herum „Krach und Krawall“ auf, denn anders lässt sich ihre Community schwerlich bei Laune halten. „Aber irgendwie funktioniert das nicht mehr“, klagt sie. Ihre Klickzahlen sinken. Folglich muss, was sie „bringt“, noch abgedrehter sein als der Post vom Vortag. Deshalb hat sie sich nicht zur feindlichen, aber freundlichen Übernahme ihres alten Klassenzimmers in ihrer alten Schule entschlossen, um sich dort möglichst hip zu inszenieren: „So habt ihr mich noch nie gesehen.“

Mona, die Dauerdaddlerin: "Irgendwie funktioniert das nicht mehr."

     „Die Eisbärin“ – eine junge Frau am Anfang glanzvoller Selbstverwirklichung? Oder eine Getriebene, deren Glück auf ganzer Linie abhängt vom Wandelbarsten, das sich denken lässt: vom Zuspruch der anderen, wer auch immer die sein mögen? Eva Rottmanns Klassenzimmerstück, mit dessen Premiere das Theater Hof gut eine Stunde lang eine Schulstube des Hofer Jean-Paul-Gymnasiums okkupierte, bohrt verständnisvoll, aber unnachgiebig durch die dünne Zeitgeist-Maske und -Verkleidung einer angesagten Trendsetterin und stößt darunter auf Hohlräume und Dunkelkammern. Mit dem Jargon der Monas dieser Welt kennt sich die vierzigjährige, mehrfach prämiierte – und mit ihrem 2018 in Winterthur uraufgeführten Einpersonenstück für den Mülheimer Kinderstücke-Preis nominierte – Autorin offenbar gut aus; in die Freiheiten und Fesseln, die Formeln und Fehlfunktionen des Blogger-Daseins hat sie sich neugierig hineingedacht. Klug genug ist sie, ihre Mona nicht einfach als doof zu verkaufen und ihr Leben zur Hölle zu wünschen.

Eine Überzeugungstäterin

Denn Mona hat was drauf, daran lässt Theater-Hof-Debütantin Valerie Bast keinen Zweifel. Von Regisseurin Jasmin Sarah Zamani munter motiviert, annektiert sie mit der Wucht eines Wirbelsturms den Schauplatz. Mit dem Charme und Charisma einer Sympathieheldin fokussiert sie die allgemeine Aufmerksamkeit ganz auf sich, mit dem offenen Gesicht, den hellen Augen und umgarnenden Gebärden einer Überzeugungstäterin erzählt sie von Monas Gegenwart, als wärs der Wirklichkeit gewordene Himmel auf Erden. Vom Hier und Heute abgesehen, scheint Zeit für Mona keine Rolle zu spielen: Ihre Zukunft beschränkt sich auf die nächsten 24 Stunden, in denen das messbare Interesse oder die ausbleibenden Kommentare ihrer Gefolgschaft über das Hopp oder Top ihres Wohlbefindens, wenn nicht ihrer virtuellen Existenz entscheiden – denn das Echo aus ihrer Blase oder deren Verstummen verrät ihr, wieviel Wert sie hat. Wer nicht geklickt und nicht gelikt wird, verliert seine Identität: Den gibts gar nicht.

Werbung des Theaters Hof

     Mona aber gibt es, und wie. Und natürlich ist die megacoole Power-Posterin von heute eine ganz andere als die „kleine dicke Mona“ aus der Vergangenheit, als sie hier, genau hier, Mathe, Deutsch und Englisch über sich ergehen ließ. Den „ganz speziellen Schulgeruch“ hat sie noch in der Nase, jenen schwerschwülen Dunst, darin „Langeweile und Angst“ sich säuerlich vermischen. Akut wurde einst die Angst, als die tolle Tanja neu in Monas Klasse kam und ihr den Rang des Alphatierchens streitig machte; sie wurde akut, als Flaschendrehen und andere Gelegenheiten zu vorpubertärer Minimalerotik die damals Zwölfjährigen mit einer „Peinlichkeit“ nach der anderen heimsuchten; als es galt, "Kalorien zu zählen", um jeden Preis abzunehmen und anderweitig „am Aussehen zu arbeiten“, um „fein raus“ und nicht „am Arsch“ zu sein. Detailliert in aller Offenherzigkeit, zugleich nuanciert, macht die Schauspielerin den Druck spürbar, unter dem Monas Leben damals ziemlich schutzlos stand: kams doch stets vor allem darauf an, was die andern von ihr hielten.

     Allerdings: Ist es heute denn viel anders? Auch heute liest Mona – die „genug Leute kennt“, sogar „in Südafrika“, nur keine im real life – den Stellenwert ihrer Besonderheit und Personalität an der gesichtslosen Zahl anonymer Anhängerinnen und Anhänger ab. Das Leben Monas, der Einzelgängerin, ist kaum mehr als das Objekt und Opfer einer feindlichen Übernahme durch ihre Follower. Und eben da verläuft ein Riss durch die Figur und durch das Klassenzimmerstück: Die Bloggerin, immer hektisch bestrebt, etwas „zu bringen, das die Leute fühlen“, beschwört in fast demselben Atemzug ihr Kinderpublikum, dass es „nichts bringt, den anderen gefallen zu wollen“. So sagt sie selbst am pointenlos platten, arg abrupten Schluss; und sagt eigentlich die ganze Zeit nichts anderes als: Sei du selbst!

     Denn die Hölle, zumindest die Vorhölle, das sind die anderen. Nur: „Wer bin ich?“ Dieser existenziellsten aller Fragen, die schon Fünfjährige sich stellen und vielleicht niemand, schon gar nicht Zwölfjährige zu lösen vermögen, verdankt sich das beste Bild in Jasmin Sarah Zamanis Inszenierung: Mona mit einem Klebezettel an der Stirn, darauf: ein Fragezeichen.

■ Buchungen für Schulen und andere Einrichtungen: 150 Euro je Vorstellung, 100 Euro für eine zweite Vorstellung am selben Tag (Kontakt: Telefon 0 92 81/70 70 111, E-Mail: buchung.jungestheater@theater-hof.de).
■ Informationen über die Produktion und weitere Vorstellungen im Internet: hier lang.



Kinder haften für ihre Eltern

„Eine Art Familienaufstellung“: Intendant Reinhardt Friese als Regisseur setzt mit den Generationenbrüchen des „Hamlet“ kurz und gut, rhythmusbetont und suggestiv die Reihe gewichtiger Shakespeare-Inszenierungen im Theater Hof fort. Bedenklich stimmt der miserable Besuch der Premiere.

Hamlet beim Schwertkampf mit Laertes (von links: Maurice Daniel Ernst als Laertes, Dominique Bals als Claudius, Oliver Hildebrandt als Hamlet, Kerstin Maus als Gertrud): Unentrinnbare Zwänge, patriarchale Abhängigkeiten. (Fotos: H. Dietz Fotografie)


Von Michael Thumser

Hof, 10. Oktober – Die Bühne: entblößt. Schon der erste Blick macht vorn auf ihrem öden Boden einen breiten Streifen Erde aus: Was wie ein umgegrabener Friedhof anmutet, entpuppt sich mit der Zeit denn auch als einer. „Hamlet“, dies bekanntermaßen multipel blutige Verhängnis, könnte gut und gern sechs Stunden dauern, in Hof aber sind schon nach knapp zwei Stunden alle tot. Denn Hausherr Reinhardt Friese hat als Regisseur nicht nur den Schauplatz leergeräumt, sondern nicht minder radikal auch in die Textgestalt des Werkes eingegriffen – „Zwei Drittel des Stücks sind raus“, sagt er –, um William Shakespeares Dänendrama in einem Happen und ohne Beilagen genießbar zu machen.

     Schnell gehts trotzdem nicht. In der Verhaltenheit der Tempi steckt, versteht sich, Absicht. Als das Theater am Samstag die erste Schauspielpremiere der neuen Spielzeit vor enttäuschend wenig, aber applausbereitem Publikum herausbrachte – und damit finster wie die Nacht an die bisherige Serie gewichtiger Shakespeare-Produktionen, namentlich an „Richard III.“ vom April 2022 anschloss –, da offenbarte sich der prägnante Rhythmus der Produktion als ein Hauptkennzeichen, eine Hauptstärke. So intensiv wie den Fluss der tödlichen Dialoge setzt Friese viele Unterbrechungen in ihnen ein, gesprochenes Staccato, gelegentlich fast sinnwidrige Akzente, Stockungen und Stagnationen, die sich auch schon mal in die Tiefen bodenloser Pausen versenken. Freiwillig oder notgedrungen riskiert der Regisseur so, dass, was er stilisieren will, auch mal gestelzt daherkommt. Doch fügt sich solche Art der Rede in das unbedingt abstrakte Erscheinungsbild der Inszenierung zwingend ein.

„Archaische Grundstrukturen“

Denn zunehmend erkennbar legen derlei Stilmittel der Reduktion und Überhöhung, der Verzicht auf Realismus, Staffage und Kulissen die anthropologischen Konstanten der Szenenfolge bloß, die „archaischen Grundstrukturen“, von denen Friese im Programmheft wohlweislich spricht. Als „eine Art Familienaufstellung“ formiert er die Figuren und geht dabei von den Zwängen aus, die eine Generation auf die ihr folgende ausübt, hier: die Väter auf ihre Kinder. Unentrinnbare Zwänge: „Dänemark ist ein Gefängnis“, zetert Hamlet, und mit steilen Bollwerken, glatt und unübersteigbar, hat Ausstatterin Annette Mahlendorf die Szenerie entsprechend symbolstark ver- und abgeschlossen. Eine rollierende Wand im Zentrum vollendet mit ihren veränderlichen Schatten in grauweißem Nebelschimmer die Bühnenschwärze.

Susanna Mucha, Cornelia Wöß und Julia Leinweber mit Oliver Hildebrandt: Drei Nornen wie der Chor eines antiken Dramas.

     Klein und stumm und statuenstarr steht ziemlich am Anfang und ganz am Ende der Geist von Hamlets Vater (Konrad Lühnsdorf) im Gewaber, ein Knabe im spukweißen Nachthemd, einen Luftballon in Händen, als hätte er sich aus einem Banksy-Graffito hierher verirrt. Stupend fallen mit dem Auftauchen des puerilen Phantoms die Generationen und Identitäten in eins: In jener Schimäre des toten Vaters erkennt Hamlet sich selbst als lebendiges Kind, sein eigenes junges Erwachsensein als unvollständig, unmündig, juvenil. In lauter Abhängigkeiten, in patriarchalen zumal, sieht er sich verwickelt; nicht freiwillig, sondern notgedrungen nimmt er den Auftrag an, den gemeuchelten Papa und König am mörderischen Onkel Claudius und der mit ihm „blutschänderisch“ verehelichten Mutter zu rächen. Vielsagend haften in Frieses Stückdeutung die Kinder für ihre Eltern, verfolgt vom unausbleiblichen „Fluch der bösen Tat, dass sie, fortzeugend, immer Böses muss gebären“, um mal mit Schiller statt mit Shakespeare zu sprechen.

     Um die weitreichenden Striche überhaupt leisten zu können und zugleich die Archaik des Geschehens herauszustellen, folgte der Regisseur einem schlauen Einfall: Mehrere Rollen – so die von Shakespeare ironisch installierte Schauspielertruppe, die Totengräber der erdigen Friedhofsszene – fasst er in einer dreieinigen Formation hexenhafter Nornen oder Parzen zusammen. Julia Leinweber, Susanna Mucha und Cornelia Wöß, bleichgesichtig und mit krallenfingrigen Knochenhänden, pointieren wie der Chor in einem antiken Drama die vom Regisseur erstrebte Vorzeitig- oder Zeitlosigkeit des Stoffs geradezu allegorisch. Wenn die Damen auf Hamlets Geheiß den Mord an seinem Vater pantomimisch nachvollziehen, treiben sie den Thronräuber Claudius (Dominque Bals, zunächst als Poser „voller Herrscherlust“) in panische Angstattacken und reuevolles Schuldbewusstsein. „Schlimm beginnts, und Schlimmeres muss folgen hinterdrein“, um es wieder mit Shakespeare statt mit Schiller zu sagen.

Pole des Unbewussten

Als Traumspiel und Gespenstersonate intoniert die Regie das Stück mit seiner fatalen Zwangsläufigkeit; seine Unwirklichkeit fixiert Friese irgendwo zwischen „Sterben“ und „Schlafen“, den Polen des Unbewussten, über die der Titelheld in seinem Monolog so sprichwortschwanger grübelt. Was dabei gar nicht gelingt: das „Konzept“ umzusetzen, wie das Programmheft es umreißt. Ihm zufolge imaginiert Hamlets verendender Vater das Hauptgeschehen der Rachehandlung als letzte Wunschvorstellung seiner untergehenden Fantasie; indessen nimmt wohl das Gros der Zuschauenden die Ereignisse als utopische Trugbilderfolge wahr, die Sohn Hamlet selbst erlebt. Das grundsätzlich Halluzinatorische der Produktion offenbart sich trotzdem. Oliver Hildebrandt, der, sich weiterentwickelnd, in der Hauptrolle an seinen großartigen Peer Gynt von vor einem Jahr anknüpft, schminkt sich mit weißer Farbe das „närrische Gebaren“ eines Verrückten wie ein Kainsmal ins Gesicht, um fortan als ausgestoßener Außenseiter surreale Grausigkeiten und perverse Poesien aufzureihen zu Wahnsinns-Suaden von verdächtigem Doppelsinn. Die Liebe zu Ophelia, und damit überhaupt sein Herz, zerfleischt er, indem er Hamlets Hass auf die Welt speichelspritzend auf die leidvoll Liebende zentriert. Ohne Gegenwehr muss die sanfte „Nymphe“ unterliegen: Bei Carolin Waltsgott, die auch die Göre kann, hier aber gehörig zart agiert, geht sie erst eingeschüchtert, schließlich namenlos traurig ins Wasser und in den Tod, auch sie am Schluss nur noch ein Geist, ertrunken triefend; das Opfer eines Vaters – Volker Ringe, die personifizierte Vorschrift – am Schluss auch sie.

     „Das gibt zu denken“, heißt es im Stück einmal. „Zu denken“ gibt bei dieser Schauspielpremiere – und nicht erst bei dieser – desgeichen ihr beschämender Besuch. Dass das Publikum sogar bei einem Klassiker am Start ausbleiben würde, ließ „unsere Schulweisheit“ sich nicht träumen. Von der Öffentlichkeit hängen „Sein oder Nichtsein“ des Theaters ab: Wenn ihr Zuspruch heute verstummt, wird morgen oder überübermorgen der „Rest“ womöglich nur mehr „Schweigen“ sein. Dann werden – „schade, dass es wahr ist“ – wiederum die Kinder für die Eltern haften.

■ Informationen über die Produktion und weitere Vorstellungen im Internet: hier lang.